Von Rotkäppchen und Karl Marx

Illustration: Rebekka Heeb

Märchen haben meine Kindheit verzaubert. Ich war süchtig danach. Psychologen würden behaupten, dass meine Kindheit märchenhaft war. Auch mädchenhaft.

Aber vermutlich waren die Geschichten von Prinzessinnen, die Frösche küssten und dafür einen feschen Kerl bekamen, die Flucht in eine Welt, in der mir wohler war.

ZU HAUSE GAB ES KEINE FRÖSCHE MIT GESPITZTEM MUND. VATER KÜSSTE AUSWÄRTS. UND MUTTER NUR IHRE WERTPAPIERE, WENN DIE WIEDER ZUGELEGT HATTEN. ES WAR TANTE JULIE, DIE MICH DEM TRISTEN ALLTAG ENTRISS. UND INS MÄRCHENLAND FÜHRTE.

Tante Julie war die Schwester meines Vaters: kugelrund, mit einem Busen, weit wie die Grimmialp. Und mit einem Schoss, auf dem man sich so geborgen fühlte wie im warmen Sommermoos.

Ich liebte Tante Julie.

Julie stopfte Nylons. Sie war Strumpfflickerin.

In den Jahren nach dem Krieg waren amerikanische Strümpfe eine teure Sache. Jede Laufmasche im feinen Gewebe hatte ihre eigene Geschichte. Und wurde zur Katastrophe.

Ein Pärchen von den fein gewobenen Nylons kosteten den Wochenlohn einer Verkäuferin. Junge Mädchen trugen die kostbaren Dinger nur, wenn sie zum Tanzen gingen. Ansonsten zeichneten sie mit einem schwarzen Stift einen langen Strich aufs nackte Hinterbein, der die Strumpfnaht kopierte.

PECH WAR, WENNS REGNETE.

Da schmierte der Stift. Schwarze Tränen liefen die nackten Waden runter. Und die alten Weiber giftelten genüsslich: «Hochmut kommt vor dem Wasserfall… hähä.»

Spitzzüngige Giftspritzen eben!

PASSIERTE DAS MALHEUR MIT DER FALLMASCHE, VERSUCHTE MAN DEN ABGANG NACH UNTEN SOFORT MIT NAGELLACK ODER SEIFE ZU STOPPEN.

Die Frauen brachten schliesslich ihre miesmaschigen «Nylons» zu Julie. Sie stülpte sie auf ein Glas, über dem eine grosse Lupe leuchtete. Mit feinen Häkchen holte sie die Laufmasche wieder hinauf. Und reparierte den Schaden.

IN JULIES NÄHZIMMER SAH ES AUS, ALS HÄTTE EINE BOMBE EINGESCHLAGEN.

Überall lagen zusammengeknüllte Nylonstrümpfe herum. CHAOS TOTAL. Und meine Mutter schüttelte den Kopf: «Julie, wie kriegst du das in diesem Tohuwabohu alles wieder auf die Reihe… wie weisst du, welcher Strumpf zu welchem Bein gehört…?»

Julie tätschelte dann ihrer jungen Schwägerin den Arm: «Kümmere du dich um deine Aktien, Carlotta. Strümpfe und Aktien sind da sehr ähnlich – nur kann ich die Maschen wieder raufholen, wenn sie mal gefallen sind…»

Mutter brachte mich oft zu Tante Julie: «Könntest du auf ihn aufpassen, Liebes?» Julie strahlte dann: «Herein mit dem kleinen Märchenprinzen!»

Ich war etwas angestaubt, dass sie mich nicht als Prinzessin sah. Aber ich wollte mal nicht so sein. Besonders, da Julie eine grossartige Köchin und Backkünstlerin war. Sie schnitt mir ein Stück von der noch warmen Apfelwähe ab. Und schob einen Berg Strümpfe vor ihren Füssen zur Seite: «Ich erzähle dir jetzt, wie Aschenputtel zu seinem wunderschönen Ballkleid kam…»

«Hatten wir schon!», krähte ich mit vollem Mund.

«Gut. Rotkäppchen?»

«Schon z w e i Mal – der Wolf hat die Grossmutter gefressen, aber noch nicht verdaut!»

«Na dann», lachte Julie. Holte ein dickes, rotes Buch, auf dem drei Zwerge um einen Baum tanzten. In goldenen Grossbuchstaben stand da: GRIMMS MÄRCHEN!

Julie lächelte: «Jetzt kannst du dir die Märchen selber aussuchen…»

Protest: «Ich kann noch nicht richtig lesen… nur ein paar Buchstaben. Und…»

Julie duldete keine Ausrede. So lernte ich dank der Brüder Grimm mit fünf Jahren lesen. Ich sass zu ihren Füssen. Und trat in dieses andere Land, das mich bis heute nicht mehr losgelassen hat: Märchen.

Wenn ich von meinen gescheiten Kollegen und intellektuellen Freunden gefragt werde: «Was hat dich in der Literatur geprägt?», kommt die Antwort wie ein Kanonenschuss: «MÄRCHEN!»

Sie schauen etwas verunsichert. DANN MERKEN SIE, DASS ICH KEIN SPÄSSCHEN MACHE. Ihr Lächeln splittert jetzt, wie das alte Porzellan auf einem Puppenkopf: «Aha!»

Sie nicken wissend und zeigen diese überlegene Miene, die ich auch bei Politikern oder Banken-CEOs in Interviews beobachte, wenn sie nicht wissen, wovon sie reden: «Aha!»

Die meisten meiner Journalistenkollegen sind mit dem roten Buch von Karl Marx aufgewachsen. Ich mit dem Rotkäppchen der andern Art.

Ich mixte mir schon sehr früh meine eigene Welt zu solchen Geschichten zusammen, wie sie für mich stimmten. WAS KONNTE ICH DAFÜR, WENN IN DER WIRKLICHKEIT DIE GESCHICHTEN NICHT RICHTIG PASSIERTEN!

Gottlob hatte ich mit Fräulein Zürcher eine Kindergärtnerin, die ein übergrosses Herz für Märchenerzähler wie mich hatte. Ich durfte zwei Mal pro Woche meine Geschichten erzählen. Und die Kleinen kreischten: «Das ist gar nicht wahr…»

JA WAS WOLLTEN DIE EIGENTLICH? – IHRE TRAURIGE ALLTAGSWAHRHEIT. ODER DAS FRÖHLICHE MÄRCHENLEBEN?

Wir durften jetzt auch solche Geschichten wie «Dornröschen» oder «Hänsel und Gretel» als Theaterstück aufführen. Mir lagen die dramatisch bösen Rollen näher als die bleichgesichtige Cinderella, diese dusslige Erbsenleserin, die schon am ersten Ball aus den Schuhen kippt.

ICH WÄRE GERNE EINE DER BISSIG FIESEN SCHWESTERN GEWESEN. ODER BEI SCHNEEWITTCHEN DIE GALLIGE STIEFMUTTER MIT DEM GROSSEN SPIEGEL. Selbst die Hexe im Knusperhäuschen war mir lieber als die Rolle der emanzipierten Gretel, die immer das grosse Wort gegenüber Hänsel führen musste.

Ich liebte es gallig und bitterböse. Und hätte mir für die Rolle der zeternden Stiefschwester von Cinderella auch den Fuss abgehackt.

Aber nichts da!

Solche Rollenwünsche kamen bei Fräulein Zürcher stets ganz schlecht an. Trotz ihrem grossen Herzen und den wissenden Augen strich sie mir über das damals schon dünne Haar: «Ach Bub, das geht nicht – du kannst keine böse Schwester sein. Spiel doch einfach den lustigen Kutscher, der Aschenputtel aufs Schloss fährt!»

DEN KUTSCHER?! – DANN HÄTTE ICH GENAUSO GUT DEN GAUL SPIELEN KÖNNEN!

Das Leben hat mich später gelehrt, dass man sich die Märchen selber machen muss. DAS GEHT OHNE GROSSE HEXEREI. ES BRAUCHT NUR DAS ZAUBERPULVER «FANTASIE».UND NATÜRLICH KÖNNEN HEUTE AUCH MÄNNER DIE SCHRÄGEN SCHWESTERN SPIELEN!

Die Zeiten haben sich da geändert – und die Strümpfe schon lange keine Fallmaschen und Geschichten mehr…

Dienstag, 15. Januar 2019