Mary Poppins

Lore schaute zum Himmel.

Dann aufs Meer.

GRAU OBEN.

GRAU UNTEN.

«Grauenvoll», seufzte Lore.

Sie hatte den trüben Januar fliehen wollen. Und Sonne in der Toskana gebucht.

ABER: Die Sonne lässt sich nicht buchen.

Immerhin – der Hotel-Portier versucht gut Wetter zu machen: «Buon giorno, bella donna!»

Lore wusste: Fake News! Sie ging gegen 80. Hatte Runzeln wie ein liegengebliebener Apfel.

UND GICHTSCHÜBE!

Was nun?

Es gibt nichts Trüberes als einen Sommerferienort im Januar: Läden geschlossen.

Der sonst so farbenprächtige Mercato war auf ein einziges Ständlein beschränkt: Eine Verkäuferin aus Mao-Land redete vor chinesischen Taschenlampen auf ihr Handy ein.

In der einzigen Caffè-Bar, welche die Türe offen hielt, servierte ein mürrisches Männchen Lore einen Cappuccino. Der Schaumberg war eingestürzt. Und die Tasse kalt.

Lore dachte sehnsüchtig an ihre Wohnung, wo die Kaffeemaschine funktionierte. Und zumindest die Glotze etwas Abwechslung versprach. In ihrem Hotelzimmer propagierte ein verknittertes Merkblatt zwar 83 Kanäle. 80 davon waren jedoch Werbesendungen, in denen billige Ringe und Teflonpfannen verschachert wurden.

Die drei öffentlichen Staatssender wiederum brachten nur Horror, bei dem sich Familien öffentlich anschrien. Oder es gab politische Runden, in denen inhaltslos, aber umso lauter gepoltert wurde.

Einmal zeigten sie einen uralten «Derrick». Der Kommissar sprach italienisch.

LORE NICHT.

Und dann entdeckte sie das Plakat: IL RITORNO DI MARY POPPINS!

Lore lächelte jetzt. Schon als junges Mädchen hatte sie die wunderbare Frau mit dem Regenschirm und den gespreizten X-Füssen entzückt.

Sie hatte sich den Film mindestens viermal reingezogen. Und jetzt kehrte Mary Poppins also zurück. «Wo Cinema?» – erkundigte sich Lore.

Das Sauermännchen an der Bar stierte gebannt auf den TV-Bildschirm mit den Wettquoten. Er zeigte mit dem Daumen über die Schulter ins Graue.

Vor dem Kino herrschte grosse Aufregung: Kinder schrien, lachten, plapperten miteinander.

Als Lore ein Ticket kaufen wollte, taxierte sie die Schalterfrau: «65?»

NA IMMERHIN – DAS WAR DOCH ETWAS!

MAN HIELT SIE NOCH NICHT FÜR EINE MUMIE. UND GAB IHR DAS BILLETT ZUM RENTNER-PREIS.

Im Innern des kleinen Kinos war Lore die einzige Erwachsene.

Neben ihr sass ein kleiner Junge. Er raschelte mit dem Popcornsack. 150 Kinder raschelten mit ihren Popkornsäcken.

UND NOCH BEVOR DIE NEUE MARY POPPINS VOM HIMMEL HER AUF DIESE TRISTE WELT HERNIEDER SCHWEBTE, KLEBTEN AN LORES NEUER CASHEMERE-JACKE DREI KAUGUMMI UND VIER GUMMIBÄRCHEN.

Zwei energische Händchen trommelten ihr aufs dünne Haar. EIN MÄDCHEN SCHRIE ETWAS –LORE WAR ZU GROSS FÜR DIE WUNDER VON MARY POPPINS. Und der Platzanweiser schnallte der Kleinen einen Kunststoff-Kübel auf den Kinositz. Nun konnte das Mädchen über Lores magere Locken hinwegsehen.

«Gottlob hat die neue Mary Poppins ihren alten Regenschirm mitgebracht», dachte Lore noch. Dann schwebte sie mit dem Kindermädchen weg in eine Welt voller Farben – in eine Fantasie-Welt, in der alles möglich war.

Als Mary Poppins wieder in die Wolken zurückflog, weinte Lore wie ein Hund. Der Junge neben ihr streckte ihr seinen Kaugummi zu. Lore steckte ihn lächelnd in den Mund.

DRAUSSEN WAR DER HIMMEL BLAU.

UND DIE SONNE ZEIGTE SICH ÜBER DEM MEER.

Freitag, 11. Januar 2019