Pater Franz sass beim Frühstück.
Er war unglücklich – aber er war der Typ, der nur glücklich sein konnte, wenn er unglücklich war.
Jelka hatte ihm einen Joghurtbecher hingestellt. Dazu Orangensaft aus dem Tetra-Pak: «Das ist gesund für einen alten Mann», machte sie dem katholischen Geistlichen Mut. Und legte noch eine Magnesium-Tablette zum Glas.
Pater Franz mochte keinen Joghurt. Er mochte schon gar keinen Orangensaft. Und Magnesium? Er war ein Gegner jeder Form der Pille.
Wieder kam ein schwerer Seufzer.
Pater Franz wünschte sich jene Jahrzehnte zurück, als seine Pfarrköchin Erna noch Butterzöpfe zum Frühstück aus dem Ofen zog (ja klar – nur an einem Sonntag, aber auch ihr Werktags-Brot war stets so weich gewesen, dass seine etwas miesen Zähne nicht ins Schaukeln kamen).
BEI JELKA HINGEGEN GABS SELTSAME FLADEN, DIE SIE BEI DIESEM UNGLÄUBIGEN TÜRKEN AHMED IM SUPERCENTER EINKAUFTE.
Die Dinger waren ohne jeden Geschmack. Dazu zäh wie Leder. Er hätte auch in einen Schuh beissen können!
40 Jahre lang hatte ihm Erna den Haushalt geführt. Wieder ein Seufzer: Ihre «Frösche», wie sie das in Kohl eingewickelte Hackfleisch nannte, hatten ihm stets die Woche gemacht. Immer an einem Dienstag. Nun bekam er sie nur noch an Heiligabend, wenn die alte Erna zur Mitternachtsmesse kam. Und neben dem Rosenkranz ein kleines Geschirr in den Händen hielt, das sie mit einem heissen Abtrocknungstuch während des Gottesdienstes warm hielt, damit ihr Pater nach dem grossen Auftritt noch «etwas Anständiges» zu futtern hatte.
ER WOLLTE NICHT ÜBER JELKA KLAGEN.
Das junge Mädchen aus Serbien war ein gutes Kind. Kein Zweifel.
Aber vom Kochen verstand die Kleine aus Subotica so viel wie eine Kuh von der Mondfahrt.
ALLES SCHMECKTE SCHARF WIE DIE HÖLLE. UND WENN SIE EINMAL EINEN WEICHEN FLEISCHKUCHEN, DEM SIE DEN SELTSAMEN NAMEN «PLJESKAVICA» GAB, AUFTISCHTE, WAR SCHAFSKÄSE DRIN!
Pater Franz widerstand dem Schafskäse. Aber er sagte nie etwas.
Er schluckte gottergeben.
So wie er im Leben alles Miese immer gottergeben geschluckt hatte.
Wie gesagt: der glückliche Leider-Typ. Jelka machte Mirko schöne Augen. Manchmal nahm sie ihn mit in ihr Zimmer.
Pater Franz schloss in solchen Momenten gepeinigt über so viel Frevel die Augen. Und haderte beim Kirchenaltar mit der Gottesmutter: «Weshalb, oh gütige Maria, unternimmst du nichts gegen dieses sündige Treiben in meinem Haus… Ich bin zu schwach, die Stimme zu erheben… Du aber könntest doch …weshalb nur lässt du zu, dass diese Welt so schlecht wird… dass alles auseinanderbricht… Heilige Muttergottes, ich verstehe die Menschen nicht mehr…»
DIE HEILIGE MUTTER SCHAUTE IHN DANN VON OBEN HERAB AN.
SIE HIELT IHREN KLEINEN AUF DEM SCHOSS. UND AUCH DER GUCKTE STETS LEICHT VORWURFSVOLL.
Pater Franz nickte dann: «Ja. Ich weiss – ich sollte nicht klagen. Aber – HEILIGE MARIA – es ist schwer, in der heutigen Zeit in einem Gotteshaus die Herzen zu begeistern… DIE KIRCHE IST SO LEER WIE DIE SEELE DIESER WELT. UND WENN MAL EINER KOMMT, DANN NUR UM MIT MIR ÜBER SEINE ABDANKUNG ZU REDEN…»
Manchmal hätte er sich gewünscht, die Muttergottes würde zu ihm sprechen, so wie ihr gekreuzigter Sohn in diesem Film mit dem lustigen Pfarrer auf dem Fahrrad dem Priester auch immer einen Ratschlag gab.
ABER DAS HIER WAR EBEN KEIN FILM. DAS WAR REALITÄT. UND DIE BITTERE WIRKLICHKEIT BEDEUTETE: LEERES HAUS AUCH IN DER MITTERNACHTSMESSE!
Jelka hatte sich nun zu ihm an den Tisch gesetzt: «Sie sind traurig, dass die Bude nicht boomt… Sie wollen zumindest an der Mitternachtsmesse ‹full house›… JA HIMMEL – DA MÜSSEN SIE SICH EBEN ETWAS EINFALLEN LASSEN… die grosse Show! Bei uns in der Kathedrale der heiligen Theresa führen wir das Krippenspiel auf… eine Band spielt dazu, und vielleicht sollten Sie mal mit Mirko reden. SEINE MUSIK IST WUNDERBAR.»
Pater Franz schloss gepeinigt die Augen. Er hatte Mirko und dessen Musikern das Chorzimmer der Gemeinde für Proben zur Verfügung gestellt. Dort, wo ansonsten Mendelssohns «Vom Himmel hoch» oder Grubers «Stille Nacht» vierstimmig einstudiert wurden, liess es der Weissrusse krachen.
Da gabs keine zaghaften Stimmchen wie beim gemeinsamen «Vom Himmel hoch» – die sechs Burschen brüllten sich ihre Herzen aus der Brust.
Sie hackten so wild auf ihre Instrumente ein, dass Pater Franz nach jeder Probe den Jesus am Kreuz wieder geradehängen musste.
SO ETWAS WAR BESTIMMT NICHT DAS RICHTIGE FÜR EINE WEIHNACHTSMESSE!
«Sie haben auch sanftere Songs», hatte Jelka versucht ihren Mirko doch noch ins Spiel zu bringen.
«Es heisst STILLE NACHT», hatte Pater Franz ungewohnt harsch das Thema beendet.
Doch Jelka konnte hartnäckig sein: «Man müsste eben auch Weihnachtskonfekt verteilen und irgendein Getränk…»
«ES REICHT JETZT!» Der Geistliche hatte seine Haushälterin fast böse angeschnauzt. «Und wer würde so etwas – bitte! – bezahlen?»
JELKA KONNTE NUR NOCH «ES GIBT JA AUCH SPONSOREN» BRUMMEN – DOCH DA RUTSCHTE PATER FRANZ SCHON WIEDER VOR SEINER HEILIGEN MUTTER AUF DEN KNIEN: «Die Welt versteht mich nicht! Und ich kapiere die Welt nicht mehr…»
Ein leises Wimmern unterbrach ihn.
Er schaute Maria fragend an – doch die blickte wie immer unnahbar.
Das Wimmern kam von der Ecke, wo der Gemeindearbeiter die riesige Tanne für den Weihnachtsgottesdienst aufgestellt hatte. Pater Franz hielt den Atem an – unter den Ästen, wo Maria und Jesus als fast lebensgrosse Holzfiguren auf Weihnachten warteten, lag ein wollenes Bündel in der Krippe. Der hölzerne Jesus war einfach herausgenommen und auf den Boden daneben gelegt worden.
Aus dem Bündel auf Stroh begann jetzt ein Kind loszukrähen – ein schwarzes Kind. «Jelka!» – rief Pater Franz in Panik, sodass es durch das ganze Gotteshaus hallte. «Jelka – wir haben ein schwarzes Jesuskind.»
*
Natürlich machte die Sache sofort die Runde: Die alte Witwe vom Schreiner erzählte es in der Metzgerei. Von dort ging die Geschichte zur Post, dann zur Lotto-Stelle – und schon war im Gotteshaus ein Kommen und Gehen wie auf einem arabischen Markt: Alle wollten das schwarze Jesuskind sehen. Auch Gemeindevorsteher Marti tauchte auf: «Der Kleine muss registriert werden. Ich werde gleich mal die ersten Schritte unternehmen!»
Pater Franz mochte den Politiker nicht. «Grosses Maul – nichts in der Birne!», hatte er sich bei der heiligen Maria beschwert, «weshalb lässt du so einen zu?»
Aber natürlich war Pater Franz einfach zu schüchtern, um dem Gemeindeschreiber jetzt Paroli zu bieten. Dafür sprang Jelka ein: «Es ist UNSER Kind – hier auf heiligem Boden ausgesetzt. Wir kümmern uns darum, Herr Marti. Oder haben Sie einen Schoppen mitgebracht? – Na, sehen Sie…»
Der Pater sprach in diesem Moment seine Haushälterin heilig.
Diese betreute den Kleinen in der Küche. Nur als sie ihm von ihrer Bohnensuppe einlöffeln wollte, protestierte der Geistliche: «Jelka – deine höllenscharfen Suppen bringen unsern kleinen Herrn Jesus entweder indirekt in die Hölle oder zum Platzen. Rufen wir die alte Erna. Die hat vier Kinder auf die Welt gebracht.»
Abends sassen dann die einstige Pfarrköchin, Jelka und ihr Mirko zusammen mit Pater Franz am Tisch.
Erna hielt den Kleinen auf dem Schoss. Und schöppelte ihm Milch. Jelka schaute verliebt zu Mirko: «Wenn WIR einmal…»
UND PATER FRANZ WUSSTE NOCH IMMER NICHT, WIE ER DIE SACHE RICHTIG EINORDNEN SOLLTE, ALS ES AN DER TÜR ERNEUT KLOPFTE…
«Das ist das reinste Irrenhaus», stöhnte der Pater, «wie soll ich so je meine Weihnachtsansprache vorbereiten?!»
Draussen stand Ahmed vom Supercenter. Er trug zwei Packungen Windeln unter dem Arm: «Habe gehört von Christekind… Ich bin Moslem … aber auch Vater… Hier Honig…» Er holte ein Glas Honig aus seinem Mantelsack: «Ist guter Honig. Und Honig gut für jungen Jesus-Mann!»
Etwas zögerlich bat Franz den Kaufmann in die Küche. «Darf ich Ihnen etwas anbieten?»
«Wenn nicht Umstände – einen Tee, vielleicht.»
Als Jelka die dampfende Tasse vor den Gast stellte, entschuldigte sich der Pater: «Ich muss jetzt wirklich meine Predigt vorbereiten, lieber Herr Ahmed. Herzlichen Dank für die Windeln. Sie sind ein guter Mensch!»
Dann verschwand er.
Die alte Erna seufzte: «Er ist immer noch derselbe… lebt in einer anderen Welt, die es nicht mehr gibt… Wir sollten ihm helfen, dass die Mitternachtsmesse nicht zur selben Enttäuschung wird wie jedes Jahr…»
DIE TAGE BIS ZUM HEILIGEN ABEND JAGTEN NUN DAHIN.
Der kleine, schwarze Jesus lebte im Pfarrhaus. Und alle in der Gemeinde kamen vorbei. Sie wollten das Wunder sehen.
«Wie heisst er denn?», wollten einige wissen. «Wir nennen ihn Gesù», lachte Jelka. Und hielt die Besucher am Arm fest: «Ich hätte da noch eine Bitte…»
*
Am Heiligen Abend goss es wie aus Kübeln.
Pater Franz haderte wieder mit seiner Maria: «Bei diesem Wetter kommt eh kein Mensch… Könntest dus nicht zumindest schneien lassen!»
Sie schaute leicht mürrisch über den Altar. Vermutlich fror sie. Denn in der Kirche war es schweinisch kalt.
PATER FRANZ KLOPFTE JETZT AN DIE TÜR VON JELKA: «Hat der Kleine gegessen?»
«Kommen Sie rein.Die alte Erna hat ihn bereits gefüttert. Erna ist durch Gesù mindestens 40 Jahre jünger geworden. Sie bringt mir übrigens das Kochen bei, und ich zeige ihr MEINE Spezialitäten…»
«O GOTT», STÖHNTE DER PATER, «DIE ARME ERNA!» Elektrisiert schaute er jetzt auf das Bettchen, in dem der Kleine lag. Und die Arme nach ihm ausstreckte: DAS KIND LÄCHELTE.
Jelka stellte sich zum Pater: «Gesù hat sie gerne, Pater Franz – schauen Sie nur, wie er strahlt!» Und plötzlich fühlte der Pater eine Wärme in sich, die er bis anhin nicht gekannt hatte. Er merkte, dass seine Augen sich mit Tränen füllten. – «Es ist ein Geschenk, Jelka, ein Geschenk vom Himmel. Was kümmert es mich da, ob die Kirche voll ist oder nicht. DAS HIER IST WICHTIG. IST WUNDERBAR. ES IST EIN WEIHNACHTSWUNDER FÜR EINEN DUMMEN, VERBOHRTEN PATER…»
«Na, na, na», lächelte Jelka. Und streckte dem alten Mann ein Papiertaschentuch zu.
*
Als zwei Stunden später die Kirchenglocken läuteten und die Kerzen des Weihnachtsbaums zumindest ein bisschen Wärme im kalten Gemäuer spendeten, schaute Pater Franz über die leeren Holzbänke.
Er lächelte heiter. Und nickte Maria über dem Altar zu: «Menschenleer – wie jedes Jahr. Bei diesem Regen auch kein Wunder … ABER ES GIBT ANDERE WERTE, HEILIGE MUTTER…»
Es schien ihm jetzt fast, als würde Maria ihm zum ersten Mal zulächeln.
Langsam öffnete sich die Kirchentür. Pater Franz schaute nach draussen – da war kein Regen! Dicke Schneeflocken tanzten im Licht. Und vor der Pforte zum Gotteshaus wartete eine grosse Menge von Menschen, auf deren Schultern sich der Schnee wie kleine, weisse Polster festsetzte.
Gemeindepräsident Marti führte die Leute an. Fröhlich winkte er dem Padre zu: «Dürfen wir hereinkommen?»
VON DER EMPORE ERTÖNTE JETZT MUSIK – GITARREN UND SCHLAGZEUG.
Pater Franz schaute nach oben – Mirko stand am Geländer bei der Orgel. Er sang Bing Crosbys «White Christmas».
Die Leute strömten herein. Sie umarmten den Pfarrer – Pater Franz wurde es schwindlig. Und doch ganz leicht: Sicher würde er bald aus diesem Weihnachtstraum erwachen.
Er sah jetzt, wie Jelka ihrem Mirko zuwinkte. Die junge Frau hatte sich ein blaues Tuch um den Kopf gebunden – ihr Freund legte seine Gitarre ab. Und stieg mit einem langen Stab in den Händen von der Empore herunter. Beide setzten sich vor die grosse Tanne. Und die alte Erna brachte ihnen den kleinen Gesù.
Im Hintergrund aber hatte der Chor mit «Stille Nacht…» begonnen. Die Band begleitete ihn. Und die Sänger tönten nicht mehr zögerlich. Sondern klar und fest. Fast schon perfekt.
SCHLIESSLICH NICKTE JELKA IHREM PATER ZU: «Pater Franz – es ist nun an Ihnen…»
Franz aber schaute lange stumm zu seiner Gemeinde. Dann sagte er leise: «Ich wollte euch eine Weihnachtspredigt über diese Welt halten – eine Welt, in der man die Liebe nicht mehr findet. Das habe ich zumindest geglaubt – bis jetzt.»
Er lächelte nun zögernd: «Ich müsste wohl eine ganz neue Weihnachtspredigt schreiben. Die Geschichte über ein Weihnachtswunder … über einen kleinen , schwarzen Gesù… und die Geschichte, dass die Liebe unter den Menschen existiert – auch wenn wir das nicht immer sofort erkennen…»
Er klatschte nun lachend in die Hände: «Manchmal sind wir einfach zu verstockt, zu blind… BETONKÖPFE! Es braucht neue Wege, all diesen Beton zu sprengen… Los Mirko, zeig, was du mit deiner Band draufhast!»
IN DIESEM MOMENT ÖFFNETE SICH WIEDER POLTERND DIE KIRCHENTÜR. DRAUSSEN STAND AHMED MIT SEINEN HELFERN VOM SUPERCENTER: «Natürlich könnt ihr von mir kein Weihnachtskonfekt erwarten. ABER ICH BRINGE DA BAKLAVA FÜR EINE GANZE KOMPANIE. UND WIR HABEN WUNDERBAREN TÜRKISCHEN TEE GEBRAUT…»
Mirko und die Band begannen zu spielen. Die Leute umringten Ahmeds Körbe mit dem süssen Baklava.
Und Jelka nahm Pater Franz zur Seite: In der Küche haben Erna und ich für Sie «Frösche» zubereitet. Bei uns heissen die ‹Sarma› – Kohlrouladen. Weshalb haben Sie nie gesagt, dass Sie so etwas mögen…?»
Schon war sie mit dem kleinen Gesù im Arm verschwunden.
DER PATER KNICKSTE NOCH EINMAL VOR DEM ALTAR.
Er strahlte nun über das ganze Gesicht. «Du hast es sogar schneien lassen!», flüsterte er der Heiligen Maria zu.
UND DIESMAL WAR ER FAST SICHER, DASS SIE IHM LÄCHELND ZUGENICKT HAT.