Vom Weihnachtsfenster und dem tropfenden Delfin

Illustration: Rebekka Heeb

Unser Trämler-Hans – ein kräftiges, robustes Mannsbild, das selbst die Gletscher der Jungfrau zum Schmelzen brachte… mein wunderbarer Vater also – war Macho pur.

Mit Muskelspiel. Arschzwicken bei den Serviertöchtern (ich hätte ihm dafür schon damals eine kleben können!). Und mit fünf Dutzend Liegestützen am Tag.

Um sich fit zu halten, richtete er im Keller eine Sauna ein. Neben der Sauna gabs so etwas wie einen Fitness-Keller – da hing ein lederner Sack, auf den Vater einboxte und dabei genüsslich an die Verwandtschaft meiner Mutter dachte.

Dann gabs einen festgeschraubten, alten Göppel, auf dem er seine stählernen Beine zu Schinken strampelte. Gewichte wurden gestemmt, bis ihm die Halsader wie eine Schlangengurke rausstand. Und am Schluss hüpfte er noch Seil: 2000 Umdrehungen. Dies tänzelnd, wie eine lustige Tucke.

WAR ER ABER NICHT.

Er war das Männlichste, was der Frauenwelt damals die Herzkammern flimmern liess.

Wenn ich ihm beim Training zuschaute, wenn ich sehen musste, wie ihm der Schweiss übers Gesicht tropfte und mir dabei dachte: «MEIN GOTT – WIE MUSS DAS IN SEINEN TURNSCHUHEN STINKEN!», wenn ich ihn dennoch voller Bewunderung anhimmelte, keuchte er mir entgegen: «Komm Bubi – tu etwas für deine Muskeln… du willst doch ein grosser, starker Kerl werden…»

IGITT! – WOLLTE ICH NICHT.

Doch um ihn nicht zu enttäuschen, nahm ich das Hüpfseil. Tänzelte zierlich damit herum.

Und mein geprüfter Vater wusste: «Die Boxhandschuhe, die ich für ihn auf Weihnachten kaufen wollte, sind wohl daneben…»

Trotz all dieser Männlichkeit schlummerte auch eine weibliche Seite in meinem Vater (wenn man den Menschen überhaupt in zwei Seiten aufteilen mag). Während meine Mutter gross darin war, mit wenigen Strichen aufzuzeichnen, wie sie sich das Renditehaus vorstelle, das man für sie bauen sollte – war mein harter Vater eher fürs Feine programmiert.

E R war es, der die Blumensträusse arrangierte.

E R deckte die Tische festlich. Und E R war auch für den Weihnachtsbaum zuständig.

Zwar schalt ihn meine Mutter stets eine «Kitschnudel», wenn er die Äste mit den buntesten Kugeln, Fliegenpilzen, Zwergen und schillernden Glasvögeln schmückte. Aber für einmal liess er sich von ihr nichts vorschreiben. Und wurde gar energisch (was er sonst meiner Mutter gegenüber nie war): «Lotti – ich weiss, du hättest lieber einen roten Baum, mit roten Kerzen, roten Kugeln und roten Schleifchen. Leider fehlt dir jedes Gramm Fantasie – also überlasse den Zauber mir…»

Mutter schwieg dann beleidigt.

Sie konnte keine Niederlagen einstecken. Und musste NATÜRLICH doch noch das letzte Wort haben: «ABER ENGELSHAAR VERBIETE ICH!»

Vater grinste. Und griff in die Vollen.

Natürlich war der Baum dann schimmrig mit den weissen Locken überzogen. Und wir Kinder waren begeistert: «RICHTIGES ENGELSHAAR?»

Der Vater nickte ernst: «Ja – Die Engel besuchen das Weihnachtszimmer. Kontrollieren den Baum. Und wenn er ihnen gefällt, lassen sie als Geschenk ein paar von ihren Locken zurück…»

MUTTER VERDREHTE DIE AUGEN ZUR DECKE: «UM HIMMELS WILLEN, HANS – HÖR AUF MIT DIESEN HAARIGEN HONIGGESCHICHTEN!»

Aber wir glaubten daran. Und fanden unsern Vater einfach nur heiss. Und wunderbar.

Bevor der Trämler-Hans zum Bimmel-Chauffeur wurde, hatte er einen Beruf erlernt: Zinngiesser. Er war der letzte Lehrling in der Rheinstadt. Und musste dann die Prüfung – sein Meister war im zweiten Lehrjahr gestorben – in Zürich absolvieren.

Mit Zinn kreierte er wunderbare Skulpturen, porträtierte meine Mutter oder schuf Delfine, die Wasser speien konnten.

Unsere Zimmer standen voll von zinnernen Kannen, die er Mutter zum Geburtstag, zu meiner Geburt oder zum Hochzeitstag kreiert hatte – selbst als Gewerkschaftsführer nahm er sich noch die Zeit, in freien Stunden üppige Zinnteller für Freunde zu schaffen.

«Er hat einfach das Händchen…», musste Mutter zugeben. Und die Schwiegermutter gab den Pfeffer dazu: «…aber leider nicht immer dort, wo er es eigentlich haben sollte!»

Selbstverständlich war mein Vater auch für die Weihnachtsfenster unseres «Lädeli» verantwortlich.

Das Geschäft meiner Tante Gertrude hatte zwei «Montere» – so sagte man den Schaufenstern damals. Immer vor dem Nikolaus verzauberte mein Vater die beiden riesigen Auslagen in eine verträumte Weihnachtswelt. Damals wurden die Schaufenster in einem Geschäft noch alle ZWEI Wochen gewechselt. Und es war klar: Die Weihnachtsvitrine musste der Hammer werden!

FÜRS SPEZIELLE NAHM SICH MEIN VATER ZWÖLF STUNDEN ZEIT – DAZU DREI FREUNDE, DIE ALS HELFER FUNGIERTEN. UND EINE KISTE BEAUJOLAIS (ZU JENER ZEIT WAR DER BEAUJOLAIS PUNKTO SAUFVERSTÄNDNIS DAS MASS ALLER DINGE…) BODIGTEN.

«Es soll auch für die Menschen hier im Quartier eine Weihnachtsüberraschung werden…», erklärte der Hobby-Dekorateur seiner Schwägerin. «Wenn die morgen zur Arbeit gehen, funkelt da plötzlich der grosse Zauber… das ist, als würden sie das Weihnachtszimmer betreten…»

Die Tante sagte nichts. Sie schaute, dass genügend Beaujolais da war. Und war froh, auf diese Art günstig zu einem Super-Fenster zu kommen.

EINE «TRAUM-MONTERE» WAR ES DANN AUCH – EINE RIESIGE VITRINE, WELCHE DIE HERZFREQUENZEN HÖHERSCHLAGEN LIESS. UND JEDEM ZUFLÜSTERTE: «Bald ist Weihnachten… siehst du die Flasche Malaga? Wäre das nicht etwas für die Omi? Und der Korb mit den Köstlichkeiten und den hängenden Trauben am Stiel – da würde sich Tante Rosa aber freuen…»

Mein Vater hatte die Fenster immer mit rotem Samt ausgeschlagen. Er warf dann Glimmer in die Watte, sodass diese wie ein Schneefeld zu funkeln begann.

Und er schleppte seine Zinnkannen an – stellte sie zu den teuersten Weinflaschen.

Drapierte die riesigen «Fresskörbe» (die natürlich auch er ausgarniert hatte) ganz vorne – und baute eine Pyramide aus den Festtags-Pralinenschachteln der Herren Nestlé, Peter, Cailler, Kohler.

In der Mitte des Fensters aber war ein Föhrenwald mit Vaters armgrossem Delfin. Der Fisch war seine Prüfungsarbeit gewesen. Er spuckte träge Wassertropfen in eine grosse Zinnmuschel.

Die Weihnachtsfenster an der Eulerstrasse wurden berühmt.

Die Leute freuten sich darauf. Immer wieder löcherten sie meine Tante: «Wann macht er's? Ich möchte es den Kindern zeigen…»

Heute steht ein kalter Betonbau, wo einst Weihnachten war.

Der Zinn-Delfin aber tröpfelt noch immer am Heiligen Abend. Er wohnt auf unserer Insel in der Stube – und jeder Tropfen, den er in die grosse Muschel spuckt, bringt mir das Weihnachtsfenster, meinen Vater und alle Erinnerungen zurück…

Dienstag, 18. Dezember 2018