Die Briefe

Mimmis Puls klopfte.
Sie war jetzt 91 – Treppensteigen war in diesem Alter keine Zuckerwatte.
Im Estrich tanzte der Staub durchs Sonnenlicht.
Mimmi schnupperte.
Estriche schmeckten alle gleich – nach Teppichen, die eingerollt vermoderten. Nach Mottenkugeln und Kleidern in vergammelten Koffern – NACH ALL DEM ABGELEGTEN EINES LEBENS, DAS MAN VOR-ENTSORGTE.
Bei den meisten Dingen hatten die Leute Hemmungen, sie direkt wegzuwerfen: «Das können wir eventuell noch gebrauchen …»
DIE SACHEN WURDEN NIE MEHR GEBRAUCHT.
SIE SAGTEN DER WELT IN DIESEM MOMENT ADIEU, IN DEM SIE HINTER DEN FRAGILEN LATTEN-TÜREN EINGESCHLOSSEN WURDEN.
Ein ganzes Leben lang hatte Mimmi an der Rheinstrasse gewohnt – das Fünf-Familien-Haus war Mitte der 30er-Jahre fertig erstellt worden. Ihr Vater hatte es erstanden. Und die Familie war im zweiten Stock eingezogen.
Später, als sie das Haus von den Eltern geerbt hatte, verwaltete sie es zusammen mit Max. Ihr Mann hatte goldene Hände. Er konnte kaputte Leitungen reparieren, Wasserrohre auseinandernehmen – schliesslich konnte er auch Gasherde flicken.
An so einem Gasherd hatte es dann gefunkt – zwischen ihm und dieser Schlampe im Parterre.
Mimmi hatte Fräulein Moser aus dem Tempel gejagt.
Ihr Mann hatte zuerst alles abgestritten («Du siehst Gespenster, Mimmilein!») – ABER MIMMILEIN WAR NICHT BLÖD. UND VOR ALLEM: SIE HATTE DAS RENDITENHAUS!
(Die goldenen Hände von Max reichten nicht aus, um ein Leben mit Mercedes, Ferienwohnung am Brienzersee und drei Kindern stemmen zu können. Dazu brauchte es das Bankkonto von Mimmi.)
Die Moser hatte dann mehrmals ihrem Max geschrieben. Briefträger Maurer, der vor Weihnachten stets ein Couvert zugesteckt bekam, gab Mimmi einen Tipp. Und so zog sie die Briefe aus dem Verkehr. Und liess diese in einer alten Brotdose verschwinden.
Max verliess Mimmi dennoch – aber 87-jährig. Nach Lungenentzündung per Tod. So wie es sich gehörte.
In einem seltenen Anfall von Sentimentalität hatte sie nach dem Tod von Max das Haus an die Kinder verschenkt: «Ihr erbt es ja ohnehin …»
DAS HÄTTE SIE NICHT TUN SOLLEN. SIE GAB DAMIT IHRE TRUMPFKARTE AUS DER HAND. DENN: «Mamma – so geht das nicht weiter. Jetzt bist du schon wieder gestürzt und …»
Sie hatte diesen gottverdammten Schuh übersehen!
SCHON MACHTEN DIE JUNGEN AUF DRAMA. UND WEDELTEN IHR PROSPEKTE VON ALTENHEIMEN UM DIE OHREN!
Mimmi wollte das nicht.
Sie öffnete jetzt das Abteil mit den alten Koffern – da waren noch die Militärhosen von Max …
Sie roch daran. Und schüttelte sich: Militär stank immer mies.
Als sie gehen wollte, fiel ein Sonnenstrahl auf die Brotbüchse.
Die Briefe darin waren vergilbt.
Wieder stieg der Zorn von damals in Mimmi auf: Wie hatte diese Dreckschleuder auf einen Familienvater Jagd machen können!
SIE SPÜRTE DIE HALSADER ANSCHWELLEN. JA. SIE HATTE GEKÄMPFT – FÜR MAX. FÜR DIE KINDER. FÜR IHR LEBEN.
Mimmi atmete tief durch: SIE WÜRDE WEITER KÄMPFEN. SO SCHNELL GAB SIE NICHT AUF!
AUCH GEGEN DIE REST-AUFBEWAHRUNG IM ALTENHEIM.
Sie schlurbte zur Treppe.
Bei der dritten Stufe stolperte sie.
Mimmis Briefe wurden zwei Woche später mit all den andern Estrich-Sachen verbrannt.
Mimmi auch.

Freitag, 9. November 2018