Meine Mutter war katholisch. Mein Vater reformiert.
UND ICH HABE DIE ARSCHKARTE GEZOGEN:
Sie tauften mich katholisch. Und zogen mich protestantisch auf.
Das Ganze war das Resultat einer Entrüstung mütterlicherseits: Ihre katholische Schwester hatte ebenfalls protestantisch geheiratet.
Als ihr Ehemann bei einem Autounfall ums Leben kam und Tante Gertrude im Spital von Martigny um ihr eigenes Leben kämpfte – als sie da eine der Hauben-Nonnen fragte: «Wie geht es meinem Mann?», da gab die trocken zur Antwort: «Der ist tot.»
Dann setzte sie noch einen drauf:
«S I E SIND KATHOLISCH – E R WAR REFORMIERT. GOTT MAG KEINE MISCHEHEN. UND BESTRAFT.»
Natürlich erlitt die junge Witwe einen Heulkrampf. Und als meine Mutter ihre Schwester im Spital abholte, schluchzte Tante Gertrude: «Ich brauche jetzt zwei Dinge, Lotti: Klosterfrau Melissengeist. Und ein Austrittsformular aus der katholischen Kirche.»
Meine Mutter beschloss, gleich alles in einem Aufwisch zu erledigen: Sie sagte den Katholiken Adieu. Und meldete mich bei den Protestanten an.
DAS UNGLÜCK WAR ENDE OKTOBER PASSIERT.
Die Beerdigung meines Onkels fand auf dem Friedhof von Arlesheim statt. Meine Tante – schwarz gewandet, schwarz umschleiert – wurde in einem Rollstuhl ans Grab gekarrt.
ICH WAR DAMALS KNAPP DREI JAHRE ALT: UND ICH MEINE NOCH HEUTE DAS DUMPFE POLTERN ZU HÖREN, ALS MEIN VATER SEINEM SCHWAGER EINE SCHAUFEL VOLL ERDE AUF DEN SARG WARF.
ICH BEKAM DAS WIMMERN VON TANTE GERTRUDE MIT.
Und hatte nur eine Frage in die traurige Stille: «Wohnt der Onkel jetzt dort unten in der Kiste?»
Meine Mutter hatte damals also beschlossen, das Kind «reformiert» aufwachsen zu lassen.
ICH WEISS NICHT, OB DIE ÄNDERUNG JE OFFIZIELL MIT UNTERSCHRIFT UND ALLEM PIPAPO RECHTSKRÄFTIG WURDE.
JEDENFALLS WURDE ICH ALS PROTESTANTISCHER BUB UM DIESES WUNDERBARE THEATER BETROGEN, DAS JEWEILS AN EINEM GOTTESDIENST VOR DEM KATHOLISCHEN ALTAR ABGEHT. UND DAS MICH AUCH HEUTE NOCH MINDESTENS SO ENTZÜCKT WIE «DER TANZ DER VIER KLEINEN SCHWÄNCHEN» ODER JACKY STARKS BROADWAY-SHOW MIT DEM SCHLANGENWEIB.
Alles war bei den Katholiken für einen rosigen Buben schöner: die Kirche, die Bilder … UND DIE KNABEN DURFTEN RÖCKCHEN MIT WEISSEN SPITZEN TRAGEN! ABER HALLO!
Gut. Am Freitag gabs Fisch. Und keine Frikadellen. Das war vielleicht ein Manko. Ich mochte Kabeljau nicht … ABER FÜR DAS WEISSE RÖCKCHEN HÄTTE ICH AUCH EINEN WALFISCH GESCHLUCKT. Das Ungerechteste war: An Allerheiligen hatten «die andern» schulfrei!
Mit zusammengepressten Lippen hockte ich als konvertierter Protestant jeweils auf der hölzernen Schulbank und sann über die Ungerechtigkeit dieser Welt nach: Die «Katholen» hatten sich die Sonnenseite geschnappt:
Immer mal wieder ein Heiliger, der ihnen einen freien Tag bescherte.
Die Männer trugen Röckchen am Altar. UND SIE BOTEN IN DER KIRCHE DIE BESSERE SHOW!
Entsprechend haderte mit meiner Mutter: Weshalb nur hatte sie mich klerikal umspritzen lassen?
Allerheiligen war für die Protestanten ein Tag wie jeder andere.
NICHT ABER FÜR UNSERE FAMILIE, DIE ZWAR DEM PAPST ADIEU GESAGT HATTE. ABER NOCH IMMER DIE KATHOLISCHEN WURZELN IN SICH SPRIESSEN LIESS.
Am 1. November warfen unsere Frauen ihre schwarzen Röcke an. Sie setzten teerfarbige Hüte mit dunklen Schleiern auf. Das Kind jedoch trug kratzende Knickerbockers. Und eine Mütze, die nach einer Firma «Busi» benannt war.
So fuhren wir in Arlesheim beim Friedhof vor. Und pilgerten zum Grab meines Onkels, auf dem nun ein riesiger Stein mit einem Edelweiss-Bouquet (er war ein Bergfreund gewesen) die Menschen mit dem Spruch: «DU HAST ES SO GEWOLLT…» beeindrucken sollte.
NATÜRLICH JAGTE ICH DER FRAUENGRUPPE VORAUS.
DIE GROSSMUTTER GING AUFRECHT AN EINEM STOCK MIT SILBERGRIFF. SIE HATTE EBENFALLS TRAUERSCHWARZ AN SICH GEWORFEN, TRUG HANDSCHUHE BIS ZUM ELLBOGEN UND UM DEN HALS SECHS INEINANDERVERSCHLUNGENE TOTE NERZE MIT SCHIELENDEN GLASAUGEN.
«Benimm dich! Das hier ist ein Trauermarsch», zischte sie mir unter dem dünnen Schleier zu.
«Renn nur» – lächelte Tante Gertrude.
Und: «…die haben bereits Erika auf dem Grab!», seufzte meine Mutter. Und dann dramatisch: «VERSPRECHT MIR, DASS IHR MICH AUF MEINEM GRAB VOR ERIKASTÖCKCHEN VERSCHONEN WERDET!»
Die Frauen standen dann lange seufzend am Stein.
Tante Gertrude bückte sich. Und zündete eine Kerze an.
Dann sah ich, wie es hinter den drei Schleiern tropfte.
TRÄNEN KULLERTEN ÜBER DIE DICK GEPUDERTEN BACKEN. SIE HINTERLIESSEN SPUREN WIE SCHLITTEN IM SCHNEE.
«Er war noch so jung…», sagte die Omama dann.
Sie sagte es bei jedem Grabbesuch.
Und: «Können wir dann noch ins Kaffee Luxor?», unterbrach ich ungeduldig.
Die Stimmung wurde etwas lockerer. Und im «Luxor» steckte mir die Omama ein Zwanzigrappenstück für «die Attraktion des Hauses» zu: Dies war eine der ersten Juke-Boxes aus Amerika. Lichter sprudelten in Regenbogenfarben. Und wenn man eine der Tasten drückte, hob ein Geisterarm eine Platte auf den kreisenden Teller. Ein zweiter Arm senkte sich mit der Abspielnadel darauf hinab.
Schon ertönte Musik im Café.
«A12» – befahlen die Frauen im Chor.
Ich drückte «A12». Und man hörte Anton Karas hartes Zitherspiel aus dem «Dritten Mann».
Jetzt tropften die Augen hinter den schwarzen Schleiern erneut.
WAR MIR SO WAS VON WURST.
HAUPTSACHE, ICH BEKAM DIESEN HERRLICHEN EISBECHER MIT DEM SCHICKEN PAPIERSCHIRMCHEN, DAS SIE STETS IN DIE PISTACHEKUGEL STECKTEN.
Ich weiss nicht, weshalb ich immer an Allerseelen an all diese Gelato- und Trauermomente denken muss.
Viele Jahrzehnte später habe ich an dem 2. November, DEM «GIORNO DEI MORTI», jeweils die vielen Lichter auf den italienischen Friedhöfen bewundert. Wie eine Million Glühwürmchen durchbricht ihr Schimmern das erste Wintergrau.
HEUTE KNIPSE ICH AN ALLERHEILIGEN VOR DEM GRABSTEIN MEINER ELTERN DIE ELEKTRISCHE KERZE AN.
Auf dem Stein steht: «Alles ist vergänglich.»
OKAY: ES GIBT K E I N E ERIKASTÖCKCHEN UNTER DEM SPRUCH.
UND STATT EISBECHER EIN TIRAMISÙ.
NUR DIE SEHNSUCHT NACH DEM WEISSEN RÖCKCHEN WAR NIE VERGÄNGLICH.