Von der Erbschaft und einem stinkigen Notarzimmer

Illustration: Rebekka Heeb

Der Anwalt war klein.

Schmuddelig.

Und er hatte gelbe Raucherzähne.

ICH HASSE GELBE RAUCHERZÄHNE.

O.k. – nichts gegen das Zigarrenpaffen.

DAS GILBT ARG.

Aber immerhin hat uns die Putzmittelindustrie Pasten entwickelt, die das Gelb rauszwingen. Und der Schaufel wieder das Blütenweiss einer unschuldigen Schneeanemone reinzwingen.

NICHTS VON ALLEDEM BEI DIESEM NOTAR MIT SEINEM LÄCHELN, DAS SO TRÜB WAR WIE UNGEPUTZTE KLOSCHEIBEN IM UNTERSUCHUNGSGEFÄNGNIS.

(Nicht, dass ich mich da auskennen würde.

Aber ihr schnallt schon, was ich meine).

Die trübe Nuss hockte also vor einem Stoss Blätter. Und wir unmittelbar davor.

ER MIEFTE, DASS GOTT ERBARM!

Aber wer will schon fliehen, wenn einem in Bälde die Botschaft über eine Erbschaft von fünf, na ja mindestens vier Millionen Eiern bar auf die Hand verlesen wird.

Der Stinker packt nun die Blätter. Büschelt sie zurecht. Und tut, als würde er gleich mit der Arie anfangen.

DOCH ER SINGT NICHT. Er redet. Und das ist weitaus schlimmer:

Hinter den Raucherzähnen steckt der notarielle Mundgeruch.

Man sagt: Geld stinkt nicht. ABER HIER STINKT ES GEWALTIG.

Der Mann muss an einem Magenproblem leiden. Deshalb hat er auch diese Gesichtsfarbe von gekippter Milch.

Es gibt Pfefferminzdragées! Gegurgel mit Listerine. Oder diese handlichen Taschenbömbchen, mit denen wir früher nach dem beliebten Knoblauchbrot vor dem Küssen wieder frische Bahn gesprayt haben.

DER MANN DA KENNT DAS ALLES NICHT.

Er verzieht nur immer wieder von irgendwelchen Krämpfen gepeinigt an seinem billigen Kunststoff-Gürtel herum. UND WIE ES DAHINTER AUSSIEHT, MÖCHTE WEISSGOTT KEINER WISSEN…

Der Brief war ja wirklich der Hammer.

Er kam mit der Post. Und ich musste unterschreiben.

Innerhalb einer Sekunde stand Innocent neben mir. ICH BEKOMME NUR SELTEN POST, DIE ICH UNTERSCHREIBEN MUSS.

Meistens führen die Herrschaften mich direkt ab.

HIER ABER RIEF DER POSTMANN AUF SEINEM MOTORROLLER: «E I N S C H R E I B E N – KUGELSCHREIBER HABE ICH!»

Das genügte auch schon, Innocent hinter seinem Müesli aufjagen zu lassen. Seine Augen kippten schon ganz vorne an die Brillengläser – so neugierig war er auf den Absender.

«ERBSCHAFTSAMT!», nickte ihm der Pöstler komplizenhaft zu.

«ERBSCHAFTSAMT», las ich.

«ERBSCHAFTSAMT» schüttelte Innocent nun ungläubig den Kopf.

DANN ZUPFTE ER MIR DAS COUVERT AUS DER HAND: «Die Sache wird nicht zwischen Tür und Angel untersucht… Erben ist immer eine ernste Angelegenheit…»

ICH HABE MEINEN 70. GEBURTSTAG GEFEIERT. ABER NOCH HEUTE ÖFFNET ER MEINE BRIEFE. UND BRÜTET ÜBER MEINEN BANKAUSZÜGEN!

Wenn ich protestiere, knurrt er nur: «Sei froh, dass wenigstens einer von uns beiden drauskommt.»

Jetzt überflog er die offiziellen Zeilen. Und schüttelte den Kopf. «Kennst du eine Dora Abächerli – Jahrgang 27?»

Ich kenne keine Dora Abächerli.

«Sie ist verstorben. Mein herzliches Beileid!»

«Ach ja? Und was schreibt die Verstorbene?»

Innocent rieb sich freudig die Hände: «Sie hat uns in ihrem Testament bedacht.»

U N S?

Er schaute gekränkt: «Wir haben keine Gütertrennung … also gehört die Hälfte des Segens mir. Geteiltes Leid, geteilte Freud.»

Jetzt riss ich ihm das Schreiben aus der Hand. Und da stand es schwarz auf weiss: Dora Abächerli, geborene Meyer aus Aesch, hat mich (UND N U R MICH) in ihrem Testament bedacht. Ich solle beim Notar vorsprechen.

JA KLAR – DORCHEN!

Sie war die entfernte Cousine meiner Mutter. Wir nannten sie nur «die doofe Dora». Das gute Kind hatte einen Männerkonsum, dass es krachte. Bei der vierten Hochzeit schickte die Familie kein Tee-Service mehr. Und:

«Abächerli? DAS MUSS ETWA DER SIEBTE GEWESEN SEIN.»

Wenn sie sieben Männer erledigt hat, hinterlässt die Geld wie Heu», sagte Innocent, erneut die Hände reibend.

Und ich machte mich sofort auf in die Stadt, um mich in grosser Vorfreude auf das Erbe hin bei «André» neu einkleiden zu lassen.

Abends bohrte Innocent nach Genauerem. «Was hat sie denn so gemacht … ich meine neben den Männern?»

Mein Gott – wir hatten kaum Kontakt.

WIE SOLLTE ICH DA JETZT IHREN LEBENSLAUF RUNTERBETEN?!

Deshalb: «Ich weiss nur, dass sie gerne malte… und auch einmal an einer Weihnachtsausstellung teilgenommen hat… Blumen und so…»

Dann zeigte ich auf die schwarzen, durchgestrichenen Zeilen im Testament: «Was soll denn das? MAN KANN ES JA NICHT MEHR LESEN!»

Innocent setzte diese überlegene Miene auf, die er auch bei «Tschau Sepp» zeigt, wenn er vier Asse in den Händen hält: «Das sind die andern, die geerbt haben. Das soll dich nicht kümmern. Melde dich schleunigst bei Notar Säuerlich!»

UND SO SITZE ICH NUN VOR IHM. UND ÜBERLEGE, OB ICH DAS NOTFLÄSCHLEIN MIT «KÖLNISCH 4711» HERVORHOLEN SOLL.

Der Jurist räuspert sich jetzt. Dann krächzt er: «Ihre Grosstante hat Ihnen Folgendes vermacht…»

ICH HIELT DEN ATEM AN – UND NICHT NUR WEGEN SEINES MUNDGERUCHS.

Er zeigte in die Ecke des Raucherstübchens. Dort war ein Bild in Öl an die Wand gestellt worden. SUJET: «FELDSTRAUSS MIT WELKEM MOHN».

Zu Hause wartete Innocent mit gekühltem Festwein.

Ich winkte ab: «Doofe Dora – die ‹Durchgestrichenen› bekommen ihr Geld – wir haben nur die welken Blumen. UND WIR HABEN NIRGENDS AUCH NOCH EINE OFFENE RECHNUNG BEI BOUTIQUE ANDRÉ…»

«W i r», jaulte Innocent auf.

«GETEILTE FREUD, GETEILTES LEID…!»

Dienstag, 23. Oktober 2018