Speisesaal

Sergio beobachtete das alte Paar unauffällig.

Die beiden rührten ihn. Jeden Morgen begleitete die Frau ihren Gatten in den Speisesaal.

Wollte sie ihm den Arm geben, wurde er ungehalten: «Das kann ich gut alleine…»

SERGIO KAM AN IHREN TISCH: «GUTEN MORGEN – WIE IMMER?».

Beide schauten freundlich. Nickten synchron: «Wie immer, Herr Sergio – danke!».

Sie tauchten im Herbst auf. Und sie blieben bis zum ersten Schnee.

Sergio war noch in der Ausbildung gewesen, als er den beiden zum ersten Mal begegnete. Der Chef de Service, ein gemütlicher Sizilianer, schickte ihn an ihren Tisch: «Es sind Stammgäste. Sie kommen immer, wenn die Bäume glühen…»

Er seufzte: «Sie haben das, was man «KLASSE» nennt. Klasse. Und Herz. Die Kombination ist heute verloren gegangen…»

Sie blieben zwei Monate. Am Abschiedstag haben beide Sergio gedankt. Und ihm unauffällig ein Nötchen zugesteckt: «Ich hoffe, wir sehen Sie nächstes Jahr wieder, Sergio…»

Sergio kellnerte nach der Lehre weiter im alten Hotel. DIE HOLDINGS WECHSELTEN.

NUR SERGIO BLIEB.

UND DAS EHEPAAR, DAS MIT DEN VIELEN HERBSTTAGEN AUF DEM RÜCKEN ALT UND WACKLIG WURDE.

«Du solltest nicht so viel Butter … Erwin».

«Ja, Olga.»

AUCH DIE KONVERSATION WAR SEIT JAHREN DIESELBE.

Sergio träumte mitunter in seiner Bude von einer Ehe, wie sie Erwin und Olga führten.

Es musste wunderbar sein.

Er liebte seinen Beruf – mehr als alles andere.

Und er liebte die Gäste.

DENNOCH – ER WAR JETZT BALD 50 JAHRE ALT. HATTE KEINE FAMILIE. HATTE NICHT VIEL GESPARTES – DA BLIEB NUR DIE FREUDE AN DER ARBEIT.

Der alte Mann nahm den Stock. Und stützte sich darauf. Dann ging er ans Buffet. Und holte sich ein Stück von der Linzertorte.

«Du solltest nichts Süsses… Erwin.»

«Ja ,Olga.»

Er zwinkerte dem Kellner zu: «Frauen!»

In den kommenden Monaten überschlugen sich die Ereignisse. Wieder ein neuer Besitzer. Wieder andere Verträge – der neue Geschäftsführer liess Sergio ins Büro kommen: «…die kaufen nur, wenn wir mit Ihnen einen Vertrag als Oberkellner bis zur Pensionierung abschliessen. Sie bekommen das Dreifache an Gehalt. Und eine gute Pension…»

Sergio war es recht.

IM HERBST ERSCHIEN OLGA ALLEINE IM SPEISESAAL.

SIE LÄCHELTE SERGIO TRAURIG ZU: «Ja – im Frühling war's….»

Dann leise: «Ich vermisse ihn…»

SERGIO TAT ETWAS, DAS ER SICH ALS KELLNER NIE HERAUSGENOMMEN HÄTTE – er holte für die alte Frau ein Stück Linzertorte. Und setzte sich zu ihr an den Tisch.

Sie lächelte: «Danke, Sergio».

Dann: «Es war nicht immer nur Sonne… es war mitunter auch Sturm. Aber es war schön.»

Sie schaute den Chef de Service an: «Ich bin froh, dass Sie den Vertrag unterschrieben haben, Sergio… ansonsten hätte ich das Hotel nicht gekauft… es ist fast ein bisschen Heimkommen ins Glück!».

Als ein weiterer Herbst ins Land zog, wartete Sergio auf die alte Frau.

Umsonst.

Die Erben verkauften schliesslich den Kasten.

Reisegruppen aus allen Ländern fallen heute über das Frühstücksbuffet her. Service inbegriffen – Klasse exklusiv.

SERGIO MUSS NOCH FÜNF JAHRE DURCHHALTEN.

Die Linzertorte hat er vom Buffet gestrichen.

Es gibt jetzt Nutella-Donuts.

Freitag, 19. Oktober 2018