Regenbogen

Erna betrachtete die Frau.

Dann schloss sie ihr die Augen. Und strich nochmals die welken Wangen von Frau Matter.

Schliesslich ging sie in die Stube des grossen Hauses.

Die Tochter sprang nervös vom Stuhl auf: «Und?»

Erna nickte müde: «Sie ist über den Regenbogen...».

Die Tochter weinte ein bisschen: «...Irgendwie ist es eine Erleichterung!»

Erna kannte dieses Gefühl der Angehörigen. Es war schwer, mit den geliebten Menschen zu leben, die immer mehr in ihrer eigenen Welt versanken. Unaufhaltsam entfernten sie sich weiter – als würden sie irgendwo am Ende der Welt den Regenbogen suchen.

Anfangs versuchen die meisten Familien das Unmögliche möglich zu machen. Zu betreuen. Rund um die Uhr für die Verwirrten da zu sein.

Aber meistens zerbrechen sie daran. Die Aufgabe ist zu schwer.

DANN RIEF MAN ERNA.

Erna wurde weitergereicht wie der Weinbecher am Abendmahl.

Nach einigen Trauertagen kamen die Hinterbliebenen. Bedankten sich bei ihr. Und zögerten ein bisschen: «Sie waren wunderbar, Frau Hunziker... sie haben unsere Mutter so liebevoll betreut... Bekannte von uns haben einen ähnlichen Fall... könnten Sie vielleicht...» JEDER HATTE EINEN ÄHNLICHEN FALL. Und so trat Erna Hunziker meistens schon ein paar Tage später eine neue Stelle an.

Als kleines Mädchen fiel Erna nicht durch Leistungen in der Schule auf. Sondern dadurch, dass sie alle kranken Vögel heimschleppte. Und gesundpflegte.

«Sie wird mal Krankenschwester!», lachte der Vater.

Aber die Noten reichten nicht.

Erna tat sich schwer mit Rechnen, Orthografie und all dem dummen Drumrum. Ihre Gedanken waren anderswo. Meistens bei den kranken Kreaturen daheim.

MIT ACH UND KRACH BESTAND SIE DIE VERKÄUFERINNEN-PRÜFUNG.

Erna fand eine Stelle im Supermarkt. Und merkte als Erste: Bei Opa stimmt etwas nicht. Er wiederholt sich immer. Stellt immer dieselben Fragen.

Wieder war ihr Mitgefühl geweckt. Sie besuchte ihn nun stets nach der Arbeit.

ALS ER ZUM ERSTEN MAL DIE HERDPLATTE ABZUSTELLEN VERGASS, KÜNDIGTE SIE.

Und war nur noch für den Opa da.

Der Familie war es recht. So ersparte man dem Alten den Weg ins Heim. Und Erna betreute ihn bis zum Regenbogen.

Eigentlich hätte sie jetzt wieder arbeiten sollen. Doch dann kam der Vater: «Erna – die Mamma ist so seltsam...»

Also betreute sie auch die Mutter. BIS ZUM REGENBOGEN.

Es war der Hausarzt, der ihr als Erstes kondolierte. Und meinte: «Sie sind eine wunderbare Pflegerin, Erna... ich wüsste jemanden, der Sie nötig hätte...»

WIEDER BIS ZUM REGENBOGEN.

UND IMMER WIEDER.

Frau Matter war die zwölfte, die Erna begleitet hatte.

ES KAMEN WEITERE VERWIRRTE DAZU.

Bis zu jenem Tag, als der Arzt sagte: «Frau Hunziker, Sie haben schon wieder vergessen, dem Patienten die Pille zu geben...»

Sie vergass plötzlich viel. Und man brachte sie in ein Heim.

Hier sitzt sie nun seit Wochen auf einem Stuhl. Lächelt ins Leere.

Und sieht plötzlich Frau Matter winken: «Erna – komm!»

Sie steht mühsam auf.

Alle ihre Patienten warten schon.

Sie umarmen Erna.

UND FÜHREN SIE ZUM REGENBOGEN.

Freitag, 12. Oktober 2018