Von dicken Lippen und Wespenstichen

Illustration: Rebekka Heeb

«SCHNAUSILEIN – KAFFEE FERTIG!»

Das bin ich auch.

Besonders wenn er das Süsswort «Schnausilein» ins Vokabular nimmt.

«SCHNAUSILEIN» IST MITTLERWEILE NÄMLICH 72, STARK ÜBERGEWICHTIG. UND SCHNAUST SCHON LÄNGST NICHT MEHR.

Es frisst wie zehn Milchkühe!

Geschnaust hat es vor 50 Jahren. Und so getan, als könnte es kein Küchlein anrühren …

HEUTE: REIN IN DIE FRESSE! UND AB AUF DIE HÜFTEN!

Deshalb: «Gibts keine frischen Gipfel?»

Nun schaut er strafend mit diesem leicht spöttischen Blick, der jedes Schnausi auf die Palme bringt:

«Ich dachte, du willst abnehmen…»

Genüsslich zieht Innocent sich gleich zwei Cantuccini aufs Mal rein: «I C H KANN MIRS LEISTEN… AN M E I N E N HÜFTEN SCHLÄGT NICHTS AN!»

Nun – dünne Beine hat er immer gehabt. Und magere Lippen ebenso – zwei dünnfadige Striche, die er von seiner dürren Mutter geerbt hat. Bei Letzterer ist kaum etwas Nettes durchs Fadenmündchen gekommen.

Innocent hoovert demonstrativ eine ganze Handvoll von den harten Nussbengelchen rein. Genüsslich verdreht er die Augen himmelwärts.

UND WEIL GOTT DORT OBEN GERECHT IST, SCHICKT ER DEN CANTUCCINI EINE STRAFE NACH!

Innocent juckt auf. Plötzlich sind da keine Knieprobleme mehr. Er tanzt herum. Jault. Und spuckt etwas Braunes aus.

ES IST EINE WESPE!

INNOCENT HAT SIE TOTGEBISSEN.

ABER VORHER HAT SIE ZUM FINALE AUSGEHOLT – UND ZUGESTOCHEN!

Man muss schon sagen: es i s t ein Wespenjahr. Keine Mücken mehr. Keine Vögel. Auch die Schmetterlinge sind Mangelware.

ABER MIT WESPEN KÖNNEN WIR DIENEN!

Kaum dass ich mich mit vier Scheiben Schinken und der Quittenkonfitüre zum Frühstück zeige, applaudieren sie. Und fliegen an.

«SSSSIE. HAT. MICH. GESSSSTOCHEN!» Wütend tanzt Innocent den Leichnam zu Brei. Dann japst er: «O Herr im Himmel… ich glaube, ich sssswelle an!»

Innocent verschwindet im Badezimmer. Dann jammert er vor dem Spiegel: «DIE TSSSSUNGE ISSST SSSON GANZ DICK… UND SSSSAU NUR: DIE LIPPEN…»

Tatsächlich – innert nur fünf Minuten wird er zu Donatella Versace mit Schnauz: LIPPEN WIE GUMMIBOOTE!

UND DIE ZUNGE, DIESES SONST SO FLACHE GIFTIGE DÜNNDING, LIEGT IHM WIE EINE FETTE BLUTWURST IM MUND.

Ich bin ausser mir: D A S IST D A S FOTO FÜR UNSERE NEUJAHRSPOST. DESHALB: «Bleib so – ich knipse dich für Facebook.»

Er hat Tränen in den Augen: «Mach keinen Sssseiss, ich muss ssssubito in die Farmacccccia.»

NA GUT. ICH HABE IHN INS AUTO GESCHNALLT. UND BIN IN DEN HAFENORT GEDONNERT.

Die Apothekerin war eine von der gemütlichen Sorte: «Ich wünschte, meine Kuchen würden auch so wunderbar aufgehen… haha!»

INNOCENT WEINTE NOCH IMMER.

Und so sah sie, dass es ein schwieriger Fall werden würde. Sie gab ihm eine Kortisonpille zum Schlucken. Aber die bekam er schon nicht mehr runter. DIE BÖSE ZUNGE STOPFTE SEIN MAUL!

«Da wirds aber nichts mit Weisswein-Apéro heute Abend», versuchte ich ein Spässlein.

INNOCENT ÄCHZTE UNVERSTÄNDLICHES.

«Bringen Sie ihn in den Pronto Soccorso» auf die Lagune», seufzte die Apothekerin der «Farmacia dei Santi». Sie schlug das Kreuz. Und mir gutmütig auf den Rücken: «Im Wanderzirkus von Orbetello wäre Ihr Freund eine gute Nummer.»

Im kleinen Spital auf der Lagune wollten sie uns zuerst zum Tierarzt weiterwinken. Dann zeigte eine gewisse Schwester Lara-Lisa Erbarmen: «…PUÒ PARLARE?»

Nur i c h konnte Innocents wütendes Gestammel verstehen. Und ich tat gut daran, der lieben Frau seine Worte nicht zu übersetzen. Jedenfalls kippte Lara-Lisa ihn auf ein Krankenbett. Und jagte Flüssigkortison in seine Venen.

«Du siehst mit vollen Lippen wirklich heiss aus…», flüsterte ich in seine Ohren. «Man hätte sie schon viel früher aufspritzen lassen sollen…»

Er zeigte mir den Mittelfinger. Das brauchte ich Schwester Lara-Lisa dann nicht zu übersetzen. «Er bekommt die ganze Infusion hier – das dauert. Sicher haben Sie Besseres vor, als diesem Quasimodo das Händchen zu halten?»

Hatte ich.

In Orbetello ging ich auf Einkaufstour. Vor allem ging ich zu Angela, der himmlischen Kuchenmacherin, die für ihre Hochzeitstorten berühmt ist.

Sie hatte eine im Schaufenster.

Als mein Handy schellte, hatte sie diese nicht mehr – und mir war leicht übel.

«ISSS AUSSS…!» Ich verstand nur so viel, dass die Infusion durch und unsereins erwünscht sei.

Innocent wisperte.

«SPRICH LAUTER!»

«Isss Ssseisse… KANN NICHT… BIN VERSSSSTECKT!»

ALARM!

Ich kapierte, dass ich die dritte Lage des Hochzeitskuchens vergessen konnte.

Als ich mit unserm Inselauto vor dem Spital andonnerte, keiften die liebe Schwester Lara-Lisa und ein kleiner, dicker Mann im Duett auf Innocent ein. Händeringend jagten sie auf mich zu: «Er ist ausgebüxt… wollte einfach abschleichen… dabei kann alles jederzeit frisch anschwellen und…»

«Da schwillt schon lang nichts mehr an!», beruhigte ich die zwei.

Und Innocent musste unterschreiben, dass er in eigener Verantwortung den Krankenschragen verlassen würde.

Im Auto tätschelte er mir die Hand: «Ach Sssssnaussssi… sssso lieb, dassss du komsssst…»

Am Abend beim Weisswein-Apéro schluckte er bereits wieder problemlos.

Auch die Lippen waren zum dünnen Fadenstrich der Mamma-Seite abgeschwollen.

«Du hast dicklippig richtig sexy ausgesehen», seufzte ich.

«RED KEINEN SCHEISS!»

Er riskiert eine dicke Lippe!

Denn morgen gibts einen Rest Hochzeitstorte zum Frühstück.

Und die Wespen warten schon.

Dienstag, 9. Oktober 2018