Vom Gartenzwerg und dem Mädchen

Illustration: Rebekka Heeb

«LASS DIE FINGER VON DIESEM HERRN!» – Innocent kübelt mal wieder in meinen Gefühlen herum. «Du hast einfach einen miserablen Geschmack!»

A B E R: WENN MIR NACH EINEM HERRN IST, GREIFE ICH ZU! AUCH BEI DEM HIER. BASTA!

Die Nervensäge schaut jetzt händeringend zum Himmel. Fleht irgendwelche Heiligen herbei. Und jammert in Richtung einer Donnerwolke, wo er seine liebe Mammi vermutet: «Er tuts wieder!»

WIR ALLE WISSEN, DASS ER SEINEN BLICK TIEF NACH UNTEN RICHTEN SOLLTE,WENN ER DAS MAMMI IRGENDWO ERREICHEN WILL. DENN NUR U N T E N BRODELT ES IM HÖLLENLOCH.

UND WIR WISSEN AUCH: WENNS UM GARTENZWERGE GEHT, LASSE ICH MIR NICHT ANS GLÜCK PISSEN!

Hinzuzufügen wäre: Dieses Exemplar ist einzigartig. Kein hyperaktiver Schubkarren-Typ. Und auch nicht der schleimige Schneewittchen-Anbeter. Nein.

Es ist der astreine Geniesser-Zwerg von der postmodernen Happy-Hour-Sorte. Er pafft eine fette Zigarre. Trägt rosige Shorts. Und hat fleischige, krumme Beine in der Farbe abgebrühter Schweine. Rasiert. Aber mit Waden wie Luftkissen.

ÜBERDIES HÄLT ER EIN GLAS MIT HUGO IN SEINEN FLEISCHIGEN FINGERCHEN.

Alles sehr realistisch. Und wenn ihr mich fragt – aber natürlich fragt mich keiner – D A S IST KUNST!

Seit Jeff Koons KNALLPRALLE Ballonhündchen aus Limoges-Porzellan für happige 100 000 Eier weggehen und in den Vorzeigemuseen dieser kunsttollen Welt pinkig pinkeln, muss mir niemand mehr vorhusten , was ART-gerecht ist. Und was nicht.

DER VERSPIELTE JEFF KOONS KOMMT DEM HUGO-GARTENZWERG SEHR NAH.

DER ELEGANTE MANN AUS PENNSYLVANIA HAT UNS GELEHRT, DASS KITSCH AUCH KUNST SEIN KANN. UND SICH GLÄNZEND VERKAUFT – WOBEI HIER GLÄNZEND GANZ VON GLANZ KOMMT…

Innocent hyperventiliert nun bereits.

Er wirft mit geschlossenen Augen drei Betablocker ein. Schäumt leicht über dem eigelblich verkleckerten Schnauzer. Und flennt los: «Welche kulturellen Werte hat dir denn dein Papi mitgegeben… Ihr seid natürlich in einer Müllhalde abgeknallter Schiessbuden-Rosen und den Kristall-Entchen deiner Kembserweg-Omi aufgewachsen…»

Wo er recht hat, hat er recht!

Zumindest das mit den Enten stimmt. Das mit den Schiessbuden-Rosen nicht – Papilein hatte ganz andere Schüsse drauf!

Die Omi also besass ein ganzes Set von scharfkantigen «Canards»: zwölf Stück starkgeschliffene Enten. Die Dingerchen standen auf einem versilberten Tablett. Und jedem Glasvogel war ein Miniatur-Zänglein beigelegt. Auch versilbert. Und immer auf Hochglanz gerieben. Denn Omi war nicht umsonst die perfekte «Putze» (wie sie ihren Berufsstand bezeichnete).

Wenn ihre Putzfrauen-Freundinnen im Kembserweg zu einem Plausch aufkreuzten, holte sie die Enten aus dem Buffet. Füllte deren Mittelteil mit Schnaps auf. Und verteilte Würfelzucker.

Die Frauen klemmten den Zucker zwischen die Zangenbeine – und tauchten den weissen Würfel ins Kirschbad ein, bis er sich grau vollgesogen hatte.

DANN REIN MIT DEM ENTENGLÜCK!

ES WAR DAS FLÜSSIG-KOKS DER ARMEN LEUTE.

Die Runde wurde jetzt immer lauter. Und das Kind, das man mit Cassis-Likör stillgelegt hatte, stierte auf die glasigen Enten, deren geschliffenes Kristall wunderbare Regenbogen-Strahlen ins Zimmer warf.

«ISCH WILL AUCH SOLCHE VÖÖÖGEL», nuschelte der Sechsjährige nach dem dritten Cassis-Gläslein.

Und: «Das wirst du alles mal von deiner lieben Omi erben, wenn sie tot ist», lallte diese.

Sie drückte mich an ihren durchhängenden Busen: «Du guter Junge – du weisst, was schön ist. Meinen Rauchverzehrer vermache ich dir auch.»

Der «Verzehrer» war eine braune Eule aus Porzellan.

Gut. Sie wäre mir in Himmelblau lieber gewesen. Aber die braune Eule zeigte plötzlich gespenstisch funkelnde Augen, die wunderbar glühten, wenn Omi den Vogel anknipste.

DA WOLLTEN WIR MAL NICHT SO SEIN. UND SAGTEN: «Danke – wann bist du tot?»

Ich weiss übrigens bis heute nicht, ob die Sache mit dem Rauch und dem vervogelten Verzehrer wirklich funktioniert.

DIE PUTZEN JEDENFALLS PAFFTEN IM KEMBSERWEG-STÜBCHEN WIE DIE LONDONER KAMINE BEI MARY POPPINS. Noch wenn die Enten abgeräumt waren und die Frauen längst wieder an den Eiern, blieb ein fetter Themse-Nebel, durch den man das gespenstische Glühen zweier Augen sah, zurück.

ZURÜCK AUCH ZUM KITSCH.

Es muss leider erwähnt werden, dass mein Elternhaus dem Kind den kommunen Geschmack auch nicht austreiben konnte.

Aber hallo – im Gegenteil!

DIE UMGEBUNG WAR PRÄGEND: Über dem Esstisch hing eine Ölschwarte, die ein wunderschönes, schwarzhaariges Mädchen zeigte. Das Mädchen betrachtete eine Eidechse. Die Eidechse sonnte sich auf einem Stein. Und hinter dem Stein wellte das Meer.

ES WAR EIN WUNDERSCHÖNES BILD. ES WAR EINE WUNDERSCHÖNE EIDECHSE. UND ES WAR EIN WUNDERSCHÖNES MÄDCHEN.

Wenn die Gäste beim Essen sassen, wurden sie von dem lieblichen Kind abgelenkt: «Unglaublich – dieser Ausdruck im schwärmerischen Blick… DAS IST KUNST!».

Mutter wurde dann leicht säuerlich, weil niemand von ihrer prächtigen Tischdekoration Notiz nahm. So hängte sie die schwärmerische Maid bald einmal in mein Kinderzimmer um – und Dürrers «betende Hände» über das Gewürz-Menage mit dem Maggifläschlein.

DÜRRERS HÄNDE WAREN DANN KEIN THEMA MEHR. NUR EIN EINZIGER GAST MEINTE, DIE NÄGEL SEIEN SCHLECHT MANIKÜRIERT. ES WAR MUTTERS COIFFEUR, HERR WIGGELI, DER EINIGES VON DAUERWELLEN VERSTAND, ABER ZERO VON KUNST AUF DEM TACHO HATTE.

Ich meine: In einer solchen Umgebung, wo auf der Gästetoilette die blasenden Engel der Schwestern Hummel aufgepinnt waren, musste das blühen, was dem jungen Mann später das Prädikat «SÜSSKITSCHNUDEL!» einbrachte.

Ich stehe zum Kitsch.

Und ich mag Kitsch.

Aber nun werde ich immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass Kitsch so schlecht fürs Leben sei wie raffinierter Zucker. Oder das Fett am Schinken.

«MAN MUSS DEN GEFÜHLEN – BESONDERS IN DER SCHREIBEREI – EIN KORSETT VERPASSEN», SAGT MEIN VON MIR HOCH VEREHRTER AUTOR ALAIN CLAUDE SULZER. Und haut dann noch einen drauf: «Sonst kann es schnell passieren, dass wir in den Kitsch abrutschen!»

OH KITSCH – OH SCHANDE!

ICH RUTSCHE NICHT AB.

ICH SCHWIMME TIEF DRIN.

Und: «Man muss im Lied sehr gut abwägen, was Gefühl und was Schmalz ist», intonierte mir Mauro Peter, der wunderbare Mozart-Tenor bei einem Interview in Salzburg. «Es darf auf keinen Fall zum Kitsch werden!»

Innocent zupft mir nun ziemlich energisch den Gartenzwerg mit den rosigen, rasierten Beinen aus der Hand.

Er fällt – dlagg – zu Boden (der Gartenzwerg und gottlob nicht schon wieder Innocent).

DAS GLAS MIT DEM HUGO IST AB!

Der Verkäufer kommt herbeigerannt: «Das war Kunst», japste er, «ein Unikat von Ottmar Hörl, ich hoffe, Sie sind gut versichert!»

DIE VERSICHERUNG BLECHTE 7500 FRANKEN AN DEN KUNSTSCHADEN.

WIR DIE RESTLICHEN 7800 FRANKEN AUS PRIVATER SCHATULLE!

Es wurde der Moment, seit dem auch Innocent Gartenzwergen mit Respekt begegnet.

Dienstag, 25. September 2018