Von den Fotos auf den Gräbern und Zweitmüttern

Illustration: Rebekka Heeb

Gestern war ich bei Lindas Grab.

Ich mag Friedhöfe.

Viele machen da ja einen Bogen drum herum.

ICH NICHT.

Wenn ich an einem fremden Ort bin, gehe ich zuerst auf den Gottesacker, wie die Kembserweg-Omi die letzte Ruhestätte stets nannte.

Die Steine, die Inschriften – auch wie ein Grab angepflanzt und gepflegt wird – sagen viel aus: Viele Blumen müssen nicht unbedingt auch viel Liebe bedeuten.

Und ein kleiner Rosenstock zeigt oft mehr Gefühl für den Toten als das teure «Grabmacher-Abo» mit den Immergrün.

Bei Linda spürte ich Liebe.

Auf ihrem weissen Marmor blickt sie mir schon von Weitem entgegen – mit diesem leicht spöttischen, maliziösen Blick, mit dem sie ihr Leben gewürzt hat.

Als Linda starb, waren «Fotos» auf Grabsteinen nicht erlaubt.

Es gab da irgendeinen Paragrafen in der Friedhofverwaltung, der Porträts aus ästhetischen Gründen verbot.

Aber ist der Tod ästhetisch?

UND KÖNNEN WIR NICHT WENIGSTENS IM TOD EINMAL VOM STAAT UND SEINER BEVORMUNDUNG BEFREIT SEIN?

Ich hadere nicht.

Ich frage nur.

Auf meinen Friedhofbesuchen in Frankreich und Italien schauen mich immer die Gesichter an, die da jetzt bereits als Geister zwischen den Bäumen herumspuken.

Das ist spannend.

«BELLA MIA» – wurde da etwa bei der «cara Anna Lampone» in Stein gehauen. Laut dieser Inschrift ist sie auch viel zu früh von ihrem Gatten weggerafft worden.

Sie wurde immerhin 89. Und ich kann mir denken, dass es für den Alten lang genug «Bella mia» war.

Das Foto auf dem Emaille-Bild zeigt mir, dass Anna Lampone arg schielte. Sie hatte Lippen, dünn wie Stricknadeln. Und ich könnte schwören, dass sie zur Giftklasse A gehörte. Ihre Augen, klein, schmal, giftig, erinnerten an eine verstopfte Henne, die ihre Eier lieber für sich behielt.

ALSO – OHNE FOTO WÄRE DIE GESCHICHTE DER VERSTORBENEN ANNA LAMPONE GESICHTSLOS.

So haben wir immerhin ein paar nette Gedanken um den Giftzahn spinnen können.

Walter also bestand beim Steinmetz auf einem ovalen Foto, das wie ein Medaillon auf den Carrara-Marmor einzugiessen sei: «Und zwar ganz oben. Ich trage Linda im Herzen – aber ich will ihr in die Augen schauen können, wenn ich mit ihr am Grab rede.»

Walter war Lindas Freund. Ein Leben lang. Und ein Leben lang war er 30 Jahre jünger als sie. So etwas holt keiner auf.

NATÜRLICH SCHLEUDERTEN DIE FALSCHEN FREUNDINNEN UM LINDA DRECK: «Sie wird den nie halten können … 30 Jahre Unterschied, die hat doch einen an der Waffel … er könnte schier ihr Enkel sein … und überhaupt: WAS FINDET DENN SO EIN JUNGER SCHWEIZER MANN AN DIESEM EXOTISCHEN WEIB, DÜNN WIE EIN SPINNENBEIN!»

Der Neid der Weiber halt!

«Wie macht dieser Hexenbesen das?», hat auch meine Mutter jeweils geflüstert. «Angelt sich einen jungen Liebhaber – und sieht mit 70 noch aus, wie ich nicht einmal mit 30.»

«Deines Mutter ist galligbösig Weib. Und Weib mag armes schwarzes Frau aus Jamaica nicht!», zischte Linda mir jeweils zu, «dieses Dickweib ist verdammte Rassistin.»

Mutter war weder dick noch rassistisch. Aber auf Linda war sie eifersüchtig. So wie Linda auf «dieses schlechtes Frau» eifersüchtig war.

Irgendwie hatte Linda aber im Wettbewerb der Mütter das Rennen bei mir gemacht.

Sie kam als Zugehfrau ins Haus – und ich war eben knapp volljährig.

Der schöne Knabe lebte schon damals viel zu üppig. Er leistete sich eine luxuriöse Wohnung, die er nie bezahlen konnte.

Natürlich mussten einige ältere Freunde helfend in die Tasche greifen. Sie flöteten: «ABER DAS MACHE ICH DOCH GERNE.» Und jeder dachte, er sei der Einzige.

«Altes Trotteliges», hat Linda jeweils über die Männer gehechelt. Sie war auf alle meine Freunde mindestens so eifersüchtig wie auf meine Mutter, die sie «ein fett Weib mit Dickarsch» nannte.

Auch das mit dem «Fettarsch» war purer Neid. Denn Linda bekam nichts auf die Knochen – und alles, was über 50 Kilos wog, war in ihren feindseligen Augen «fett Weib mit Dickarsch».

Über meine üppigen Rundungen sah sie mit der Liebe einer Zweitmutter hinweg. Und verkündete jedem: «Ist nicht fettig, ist gutes Arsch mit starkes Bauch.»

ICH HABE DAS NIE ALS KOMPLIMENT VERSTANDEN.

Linda wurde nicht nur die Zweitmutter – sie war auch meine beste Freundin. DAMIT WÄREN WIR WIEDER BEIM GRUND, WESHALB DIE WAHRE MAMMA STINKIG WAR.

Und nun schaut sie mich also an.

Sie trägt den gelben Strickpullover, den ich als junger Bursche meinem Vater aus dem Schrank gestohlen hatte. Gelb stand meinem Vater eh nicht.

Und «gelbig nicht deines Farb», hat dann auch Linda zu mir gesagt. Und den Pullover annektiert.

Auf dem Pullover sieht man die Goldkette meiner Mutter.

Drei Tage bevor diese unsere Welt für immer verlassen hatte, besuchte sie Linda in meiner Küche.

Sie nahm die schwere Goldkette mit den roten Karneolen vom Hals: «Ich möchte sie dir schenken – und dir für alles, was du für meinen Sohn getan hast, danken. Vermutlich bist du die bessere Mutter. Versprich mir, dass du immer zu ihm schaust!»

Als Mutter starb, hat Linda in der ganzen Wohnung Kerzen angezündet. Sie sass schweigend am Tisch. Und schaute in die flackernden Lichter: «Denk immerig daran… ist jedes Tag bei dir… deines Mutter war ein gutes Frau… schön und gut!»

DER TOD KANN VIELES VERÄNDERN – AUCH BILDER, DIE MAN EIN LEBEN LANG IN SICH GETRAGEN HAT.

Und deshalb finde ich es gut, wenn auf Grabsteinen Fotos sind.

Dienstag, 14. August 2018