Von alten Hochzeitsbildern und Familienalben

Illustration: Rebekka Heeb

Es gibt keine Päckli mehr.

Es gibt auch keine verschickten Ansichtskarten mehr. Die hatten doch immer ein Kreuz über dem Hotelfenster: «HIER WOHNEN WIR.»

Und das letzte Telegramm hat Onkel Alphonse an der Hochzeit der Mutter meines fitten Vetters verlesen.

O.k. Der Vetter war damals erst unterwegs.

Und das Ganze ist jetzt auch bald 60 Jahre her.

Jedenfalls erinnere ich mich, dass Onkel Alphonse als Zeremonienmeister in irgendeinem aufgerüschten Kirchensaal alle zehn Minuten ans Glas klopfte: «Sooo… ich habe da wieder ein Telegramm…»

Die gingen dann etwa so:

«Ein Tag, bei dem es richtig kracht

Und dies besonders in der Nacht.

Das wünscht euch jetzt zur schönen Feier

Vom zweiten Stock – Familie Meier!»

Oder:

«Das Glück sei für die Ewigkeit

(dr Tramdiräggder het das gsait!).»

Bei Telegramm 36 war Onkel Alphonse schon so sternhagelvoll, dass er die fetten, schwarzen Buchstaben nicht mehr entziffern konnte.

Vor dem Fest hatte Tante Julie einen Sack voller Einfränkler bereitgestellt. Das waren die Trinkgelder für die Telegramm-Boten.

Auch Telegrammboten gibt es kaum mehr…

Die Ehe hat die Telegramme übrigens nicht überdauert.

LETZTERE WURDEN LEICHT VERGILBT NEBEN DEN LIEBESBRIEFEN DER BRAUT GEFUNDEN. DIESE HATTE IM HOHEN ALTER IHREN SCHREIBTISCH DEM HEILSARMEE-BROCKENHAUS VERMACHT. Und die Briefe im Geheimfach vergessen.

Die hingeschmetterte Liebe in Schönschrift («… es wäre jetzt das Hämmerchen, wär’ ich in deinem Kämmerchen!») wie auch die Glückwünsche zum Altargang kamen bei der Heilsarmee in die Papierabfuhr.

ALLES ASCHE. UND PASSÉ!

Liebesbrief-Poesie ist heute also Nostalgie.

Die Briefträger bringen nur noch die monatliche Lohnabrechnung und den Aktionskatalog von Aldi.

Vorbei die Zeit, als man mit hämmerndem Herzen auf den Mann mit dem gelben Fahrrad wartete.

Vorbei der Glücksmoment, wenn er an die Türe klopfte, einem das Couvert in die Hand drückte. Man dieses selig verklärt küsste. Und erst danach merkte, dass es nicht der erwartete Liebesbrief, sondern eine Steuermahnung war.

ICH FRAGE MICH, WOZU WIR ÜBERHAUPT NOCH BRIEFKÄSTEN BRAUCHEN, WENN EH JEDER MÜLL PER E-MAIL KOMMT!

DIES – NOTABENE – OHNE VORHER ANZUKLOPFEN!

O.k. Diese E-Mails, SMS und WhatsApp-Verbindungen haben auch ihr Gutes.

Kinder werden in den Ferien nicht mehr gemartert: «Hast du Tante Fanny schon geschrieben, wie schön wir es hier haben…»

«Ja, ja», stöhnt das Kind genervt.

Es knipst die Kuh vor der Türe. Und gibt das Foto mit den Begleitworten durch: «Mama gehts gut.»

Oft geben die fünfjährigen Schlaumeier von heute auch nur dieses DAUMEN-HOCH-Zeichen zur Kuh.

Damit hat es sich.

AM ALLERTRAURIGSTEN IST ABER DOCH DIE SACHE MIT DEN FERIENPÄCKCHEN.

Ich meine: S I E HABEN UNS EINST DAS LAGER GEMACHT.

Alle zwei Tage gingen die Leiter des «Morgenholz», wo wir den Sommer in den Bubenferien verbrachten, ins Tal. Sie keuchten dann mit Säcken voller Postpäckchen zurück.

DIE PÄCKCHEN WÜRDEN HEUTE ALS KUNST DURCHGEHEN – BESONDERS DIE SCHNÜRE, MIT DENEN SIE VERPACKT WAREN.

Für so etwas legt der Sammler in einer gehobenen Galerie jetzt gut und gerne seine 20 000 Eier hin.

Aber damals wartete jeder darauf, dass der Leiter, der ein Paket nach dem andern aus dem Sack pflückte, seinen Namen aufrufen möge.

Ging jemand leer aus, versuchte er, die Enttäuschung zu überspielen. Wer aber so ein Glückspaket entgegennehmen durfte, war dazu verpflichtet, den Inhalt zu teilen.

Der Inhalt war süss, ungesund und wunderbar: Willisauer-Ringli (weil diese die Reise meistens bruchfrei überstanden), Brausetabletten (die wie ein Feuerwerk auf der Zunge explodierten), Kondensmilch, die wir leer nuggelten.

UND DAS GESUNDE STUDENTENFUTTER MIT DEN NÜSSEN UND ROSINEN, DAS WIR WEITERVERSCHENKTEN.

JEDER MUSSTE NÄMLICH AUS SEINEM PAKET ETWAS FÜR DIEJENIGEN ABGEBEN, DIE KEIN PÄCKCHEN ERHIELTEN.

Bitte – das war Sozialkunde, noch bevor die Russen kamen!

Damals war es Sitte, dass Paten und Grossmütter, Nachbarn und Tanten die Ferienlager mit «Päggli» versüssten.

HEUTE?

Die Kinder sind ja nicht blöd und wollen selber entscheiden, was sie essen mögen – ob vegane Gipfel oder Riegel ohne Palmöl.

Also geben ihnen die Eltern eine Kreditkarte mit.

IST JA AUCH EINFACHER SO.

Studentenfutter ist eh nur noch fürs Überlebenscamp.

UND SELBST DORT ZIEHT HEUTE DER MODERNE MENSCH FRITTIERTE AMEISEN UND BLANCHIERTE KÄFER DEN ROSINEN VOR.

Ach Kinder – ich will ja nicht in Nostalgie baden. Es ist wirklich wunderbar, wenn wir mit dem Handy ein Foto oder Video beim Wasserskifahren schiessen und dies dann in die ganze Welt verschicken können.

Darunter «Daumen hoch». Und: GEIL!

ES IST AUCH WUNDERBAR, DASS WIR AUF UNSERN ZAUBERTELEFONAPPARATEN DIESE BILDER GLEICH SEHEN.

Früher haben wir noch die Filmrolle zum Fotografen gebracht. Eine Woche darauf gewartet. Und dann die Ferienfotos – Stück für Stück – im Büro herumgereicht.

SCHLIESSLICH WURDEN SIE IN EIN ALBUM GEKLEBT: FERIEN 1954.

Die dicken Bücher wurden dann immer beim Besuch der Enkel aus der grossen Buffetschublade ausgegraben.

UND ALLE DIESE ALTEN FERIEN-, HOCHZEITS- UND FAMILIENFOTO-SCHINKEN FINDET MAN JETZT IM HEILSARMEE-BROCKENHAUS.

Oder eben: im Papierabfall.

Dort werden sie im Hochofen freundlich entsorgt. Und bringen SO noch einmal etwas von dieser Wärme, die sie uns früher geschenkt haben.

Ich weiss nicht, ob eine digital verschickte Kuh mit DAUMEN-HOCH-Zeichen dieselbe Wärme schenken kann.

Dienstag, 24. Juli 2018