Alle gingen ans Meer.
Alle hatten es in den salzigen Wellen getrieben.
Alle redeten vom Gelato in Italien.
Nur bei mir: null. Nada. Niente.
MEINE FERIEN WAREN DAS FURGGI IN ADELBODEN. UND TONNEN VON HAUSGEBRAUTEM LINDENBLÜTENTEE.
O.K. ICH HATTE DAS MEER GESEHEN!
Das war in Hamburg. Dann in Scheveningen. Aber so ein kaltes Meer zählt nicht – ich wollte das warme, mittlere mit den Gelatoständen davor.
Mein Vater war in den Norden an einen Sozialisten-Kongress eingeladen. Vorher wollte er auf der Hamburger Reeperbahn die Sau rauslassen.
Also blochte die ganze Familie die Autobahn runter.
«Die hat noch Hitler gebaut», sagte der Vater.
Und: «Es war nicht alles schlecht …»
Ich sah, wie Mutters Halsader anschwoll.
«Lass mich ans Steuer –SOFORT!», zischte sie eisig. Und: «Ich will so etwas nie mehr hören!»
MUTTER HAT IMMER DAS STEUER ÜBERNOMMEN, WENN VATER SICH IN SEINEN ÄUSSERUNGEN VERIRRTE.
Also: Hamburg war eine bittere Enttäuschung.
Beim Hafen hat man vor lauter Kähnen das Meer nicht gesehen.
Und die Reeperbahn war kein Jahrmarktrummel, wie es sich der kleine Bub vorgestellt hatte. Es war überhaupt nichts für kleine Buben. Aber Vater war dort ganz gross.
Er deponierte Mutter und mich in einer Wirtschaft, in der es bestialisch nach verschüttetem Bier und kaltem Rauch stank. «Einen Eiercognac – und für das Kind eine warme Schokolade», bestellte die Gute in Tailleur und Pillbox-Hütchen.
Sie hätte auch eine Fahrt auf den Mond bestellen können.
Wir wurden einfach nicht beachtet. Erst als Vater uns abholte, brüllten alle: «Hummel, Hummel – HAMMEL, HAMMEL, HANS! Frisch abgemolken?»
Ich wusste nicht, was die verlotterte Bande damit meinte. Aber Mutter bekam wieder ihren Eiszapfenton: «Dein Herr Vater hat anscheinend schon mehrere Sozialisten-Kongresse auf der Reeperbahn besucht …»
Um die Mamma versöhnlich zu stimmen, gings dann ab nach Scheveningen. Dort habe ich das Meer erstmals richtig erlebt.
Dies mit zehn Jahren.
Ich stierte auf die immense Weite und dachte, am Horizont müsse ein Gelato-Stand sein.
Aber Vater balancierte einen rohen Hering herbei. Er hatte das glitschige Zeug in gehackte Zwiebel eingetaucht: «Komm, Kleiner – schluck das mal. Es ist der Himmel am Gaumen.» Ich schrie Zetermordio.
GUT. ICH WAR SCHON DAMALS EIN TUCKIGES KIND. ABER MIT ROHEM HERING KÖNNEN AUCH BEI NORMALMENSCHEN KEINE SCHÖNEN GEFÜHLE AUFKOMMEN.
Und so habe ich später immer geschwiegen, wenn sie in der Schule fragten: «Warst du schon am Meer? Hast du die Bikini-Frauen im Sand gebeutelt?»
Ich hätte nur von einem Hering mit gehackten Zwiebeln berichten können.
Es waren ausgerechnet meine schlechten Englisch-Noten, die mich dann während der grossen Ferien vor dem Lindenblütentee und Bergtouren im Oberland retten sollten.
«So geht das nicht weiter», tobte Mutter, als ich wegen der Drei in Englisch auf Probe kam. Nun ja – es gab noch ein paar andere «Ungenügend». Aber: «Ich kann verstehen, wenn man in Wahrscheinlichkeitslehre, Physik oder Chemie eine Pfeife ist, NICHT ABER IN ENGLISCH», tobte die Mutter.
Als junges Mädchen hatte sie an einem Elternnachmittag das traurige Gedicht «The lost Doll» rezitieren dürfen. Sie hatte brilliert. Das Aescher Monatsblatt schrieb eine Hymne auf die allerliebste kleine Charlotte mit den Lispel-Ti-Eitsch und dem Hang zur Puppendramatik
Und darum glaubte sie, ihr Sohn sei einfach zu faul, um genauso zu brillieren.
Also: «Ich habe dich in einem Sommerkurs in Hastings angemeldet.»
ES WAR MEINE ERSTE GROSSE REISE. KEIN EASY-FLUG. NEIN. ALLES IN 24-STUNDEN-ZUGFAHRT.
Auf dem Schiff von Calais nach Dover lehnte ich über die Reling. Und als ich englischen Boden betrat, schaukelte er wie die Zähne der alten Gygax.
IMMERHIN – ICH WURDE GROSSARTIG EMPFANGEN!
Die Burg von Hastings leuchtete rosig, himmelblau und lindengrün.
GANZ KLAR. – ENGLAND WAR M E I N LAND: Gurkenbrötchen und Kuchen. Eine Königin mit Klunkerkrone. Und Farben, von denen jeder Tuntenball nur träumen konnte.
Selbst die Jellys, die sie in den Konditoreien anboten, hatten diesen schrillen Regenbogenlook. Und das verführerische Tuntengewabbel …
DER PINK-JELLY-PUDDING WAR GANZ MEIN STYLE.
Auch meine Bettdecke war in rosigen Farben gehalten. Die Vorhänge im Grün gestampfter Pistazien. Und der Teppich in diesem Himmelblau, das der Himmel von Hastings nie zeigte.
MEIN JULI WAR DORT GRAU UND NASS.
Dennoch strahlte mir Mrs. Pears jeden Morgen in ihren Lockenwicklern und dem saucenbefleckten, eidottrigen Morgenrock sonnig entgegen: «Isn’t it a lovely day?»
Zum Frühstück gabs Spiegeleier mit gebratenem Speck. Dann noch kinderfingergrosse Würstchen, die mit Sägemehl gefüllt sein mussten. In der heutigen Kochwelle der Extreme würde das vielleicht durchgehen – aber damals hab ich sie einfach in die Papierserviette gewickelt. Und im Garten dem Hund hingestreckt.
Er lehnte wedelnd ab.
Am wunderbarsten aber waren die Erbsen. Sie rollten als Riesenkaliber jeden Morgen neben die Würstchen. Und sie hatten dieses giftige Grün, wie ich es nie mehr erleben durfte. Überdies schmeckten sie, als würde man in eine Zahnpastatube beissen.
MISTER PEARS WAR EIN ARBEITSLOSER PAUKER. MUTTER HATTE IHN FÜR EIN PAAR KRÖTEN ENGAGIERT. UND SO HAT MISTER PEARS MIR DAS ENGLISCHE TI-EITSCH UND VIELES ANDERE MEHR BEIGEBRACHT.
Ich liebte Mr. Pears.
Er war ehrenamtlich Fussballtrainer bei den Hastinger Black Bulls. UND ER HATTE MEISTENS SCHON VOR DEM MITTAGESSEN EINEN IM GOAL.
Wenn man die Kochkünste von Mrs. Pears in Betracht zieht, verwunderte das keinen.
ICH KAM MIT VIELEN WUNDERBAREN ERFAHRUNGEN NACH BASEL ZURÜCK.
Die Drei in Englisch blieb allerdings bis zur Matur.
«FUCKING SHIT!», tobte ich. So viel Englisch hat mir Mr. Pearce immerhin beigebracht.