Marienkäfer

Lilli sah den kleinen, roten Fleck an der Fensterscheibe. Sie setzte die Brille auf: TATSÄCHLICH – EIN MARIENKÄFER.

Der rote Punkt mit den sieben schwarzen Tupfen auf dem abgerundeten Körper bewegte sich nicht.

Lilli streckte die Fingerkuppe hin: «Komm!», flüsterte sie.

Nichts tat sich.

Sie gab dem Käfer einen kleinen Schubs.

Er blieb, wo er war.

Lilli schüttelte den Kopf: «Ich dachte, deine Gattung sei längst ausgestorben. Man sieht euch ja kaum mehr…»

Sie stand mit einem Tässchen Espresso beim Fenster.

«Als kleines Mädchen habe ich geglaubt, ihr würdet Glück bringen…», flüsterte Lilli jetzt zu dem roten Punkt. «…ihr gingt da unter Kaminfeger… Schweinchen… vierblättriges Kleeblatt …und eben: Jesuskäfer… weiss der Teufel, weshalb man euch Jesuskäfer nannte. Ihr hattet so viele Namen…»

Sie lachte laut auf: «Tante Finni hat ‹Himmelsgüegeli› gesagt. Und im Emmental ward ihr die ‹Liebhergottschäferli›…»

Lillis Gedanken flogen mit dem Marienkäfer in die Kindheit zurück.

Sie hatte die kleinen, rundlichen Käfer immer geliebt – ganz anders als die Maikäfer. Die mochte sie nicht.

Lilli hätte an der Basler Fasnacht gerne als Marienkäferchen den Kinderzug des Quartiers angeführt.

Sie hatte das Kostüm in einem Schnittmuster-Heft abgebildet gesehen.

«Ich möchte das…», hatte sie die Mutter gelöchert.

Aber die steckte die Kleine kurzerhand in das alte Waggiskostüm ihres grösseren Bruders: «Das muss ausgetragen werden – überdies ist ein Marienkäfer deutscher Trullala-Fasching. Und immer etwas louche.»

War Lilli egal. Sie wäre sehr gerne ein loucher Trullala-Käfer gewesen.

MANCHMAL SAMMELTE SIE DIE KLEINEN GLÜCKSBRINGER EIN. UND BRACHTE SIE IN EINEM KONFITÜRENGLAS NACH HAUSE.

«Du quälst die Tiere damit», schimpfte die Mutter. «Sie haben keine Luft…»

Also bohrte Lilli mit dem Zapfenzieher Löcher in den Blechdeckel.

Danach war der Zapfenzieher verbogen. Und der Zapfen ab: Lilli erhielt zwei Monate kein Taschengeld.

(DA ZWEIFELTE SIE ERSTMALS DARAN, DASS JESUSKÄFER NUR GLÜCK BRINGEN.)

Dennoch hielt sie ihnen die Treue: Mit ihrem ersten Verkäuferinnen-Lohn kaufte sie ein kleines Uhren-Bijou. Es war eine «Coccinelle», die als Anhänger an einem feinen Silberkettchen baumelte. Man konnte das Schmuckstück öffnen. Im Käfer-Innern tickte die Zeit.

«Ma petite coccinelle!» hat Ernst, der junge Rekrut aus Payerne, sie deswegen genannt.

Und als sie heirateten, wurde die Hochzeitstorte in Form eines riesigen Herrgottskäfers mit süssem Marzipanmantel angeschnitten.

Das Glück war nicht so süss wie die Torte.

Ernst hatte eine andere.

Also: Kampfscheidung.

Es blieb Lilli eine Zweizimmerwohnung mit Blick auf den Park (das immerhin).

Irgendwie hatte sich das Glück mit seinen siebentupfigen Käfern aus dem Staub gemacht.

Und jetzt klebte es plötzlich am Stubenfenster.

Lilli rupfte ein Blatt vom Geranienstock ab. Und versuchte den Käfer zu locken.

UNBEWEGLICH KLEBTE ER AN DER SCHEIBE.

Sie öffnete das Fenster.

ER BLIEB STUR.

Lilli ging in die Küche. Liess sich einen zweiten Espresso in ihr Tässchen spritzen. Und kam in die Stube zurück.

DER MARIENKÄFER WAR WEG.

Er hatte sich still davongemacht – wie das Glück eben oft still davonfliegt…

Freitag, 15. Juni 2018