Von einem Maikäfer und keinen Abfallkübeln

Illustration: Rebekka Heeb

Die wunderbarsten Dinge im Leben passieren, wenn man sie nicht erwartet.

BEI MIR WAR ES DAS DING MIT DEM MAIKÄFER.

Also.

Ich suche nach einem Abfallkorb.

MAN FINDET 1000 ÜBERWACHUNGSKAMERAS UND EINE MILLION POLITISCHE MEINUNGEN IN DIESER STADT – ABER KEINEN ABFALLKORB!

Ich jage mit meiner Serviette, in die sie mir eine gebutterte Brezel eingewickelt haben, durch die Gassen. Die Brezel ist weg. Kein Kunststück. In 30 Sekunden war sie unten.

OBEN GEBLIEBEN IST DIE SERVIETTE – BEREIT, IRGENDWIE IRGENDWO ENTSORGT ZU WERDEN.

In Wien ist das ganz einfach: Alle zehn Schritte ruft dir ein Abfallkorb entgegen: «Füttere mich!» Oder (vielleicht etwas arg sexistisch): «GIBS MIR!» Darunter steht eine Telefonnummer. Ruft man sie an, fragt eine nette Frauenstimme: «Wo saans?» Du gibst die Adresse durch. Und in zehn Minuten steht der Mistkübelmann da. ER IST DER CALL-BOY DER SAUBEREN ART. Und räumt den Korb aus.

Hier in der schönen Stadt am Rhein: noch immer kein Abfallkübel in Sicht. Man mache sich die Rechnung: 30 Sekunden für den Brezelverzehr – ZWEIEINHALB TAGE FÜR DIE SUCHE NACH DESSEN SERVIETTEN-ENTSORGUNGSMÖGLICHKEIT.

Ich bin eben dabei, das Papier zu einem festen Bällchen zu zerknüllen und auf einem Fenstersims zu vergessen – da sehe ich ihn: einen Maikäfer.

EINEN RICHTIGEN. MIT DIESEN GROSSEN, BRAUNEN FLÜGELN. UND DEM ETWAS PELZIGEN KÖPFCHEN SOWIE DEN ZWEI ZACKEBEINCHEN.

«Hallo!»

Er sagt nichts.

Er bewegt sich kaum. Entweder hat er sich vorher auf einer dieser Cannabis-Pflanzen einen reingepfiffen. Oder er ist von Natur aus träge.

ICH STRECKE IHM MEINEN ZEIGEFINGER ENTGEGEN.

Das haben wir als Kinder öfters gemacht.

Die Käfer krabbelten dann darauf. Und man spürte dieses wunderbare Kribbeln, das später andere Lustgefühle einläutete. Damals also einfach: «Hallo – lieber Maikäfer!»

Er spreizte die Flügel. Und surrte brummend davon. Dieses schwere Brummen der Maikäfer hat die Kembserweg-Omi immer melancholisch gemacht. Es erinnerte sie an die Bomber, die während des Kriegs über die verdunkelte Stadt geflogen waren.

Sie wirbelte meine Haare durch: «Ach Jungchen, hast dus gut. Das war ein böses Kapitel der Menschheit. Und jetzt – so eine friedliche Zeit. Nur noch Maikäfer, die brummen.»

Dann sang sie mit ihrem Fistelstimmchen das Lied vom Maikäfer, der davonfliegen soll:

Maikäfer flieg, der Vater ist im Krieg,

Mutter ist in Pommerland,

Pommerland ist abgebrannt.

Maikäfer flieg!

DAS MAIKÄFERLIED STIMMTE UNS IMMER TRAURIG.

UND DIE OMI SNIEFTE DANN AUCH PROMPT NACH DEM SCHLUSSTON MIT FEUCHTEN AUGEN: «Ach, haben wirs heute gut. Das wollen wir mit einer Crèmeschnitte feiern.»

Somit war das Zusammentreffen «Maikäfer und Omi» fast schon wie ein Sechser mit Zusatzzahl.

Unser Weg ins Gotthelfschulhaus führte an einer ellenlangen Hecke vorbei. Dort gaben sich die Maikäfer ein Stelldichein.

Wir trugen stets leere Zündholzschachteln mit uns. Den Deckel hatten wir mit Gabelzacken gelöchert. Und alles mit einem Blatt ausgebettet.

Behutsam liessen wir den Käfer vom Blatt in sein neues Zuhause plumpsen. Und holten uns einen Tadel von Lehrer Ruppli:

«Wo bist du mit deinen Gedanken?»

«Beim Käfer. Er surrt.»

ICH ÖFFNETE DAS ZÜNDHOLZSCHÄCHTELCHEN. UND SCHON DREHTE DER BRAUNE TAUSENDSASSA EINE RUNDE IM KLASSENZIMMER.

Die Rechnungsstunde war unterbrochen. Die Buben nickten mir anerkennend zu – die Mädchen kreischten: «Er geht mir in die Haare!» Und Lehrer Ruppli benutzte die Gelegenheit, den fünften Streich von Max und Moritz zu rezitieren, wo die beiden Buben ihre Maikäfer beim schlafenden Onkel Fritz über die Bettdecke in dessen schnarchendes Maul spazieren lassen.

Im Gymnasium war es dann unser Bio-Pauker Gerber, der uns auf die gemeinen Feldmaikäfer losliess. Wir lernten, dass sie aus der Familie Scarabaeidarum stammten – und das tönte ja fast schon wie Vischer und Merian. Sehr vornehm.

JEDENFALLS STREUTE ER UNS EINEN SACK VOLLER LEICHEN AUFS PULT.

Und kritzelte «MELOLONTHA!» an die Tafel.

Das war der Name der Opfer. Und sie stanken bestialisch nach irgendeinem Konservierungs- oder Betäubungsmittel.

GERBER ZEIGTE UNS, WIE WIR DIE KÄFER SEZIEREN SOLLTEN: KOPF AB.

FLÜGEL SEPARAT.

BEINE DANEBEN.

ALLES SCHÖN ZEICHNEN UND AUFSTECKEN!

Man hätte uns auch zum zehnfachen Mord in einer «Tatort»-Folge auffordern können.

UM ES KURZ ZU MACHEN: ICH BRACHTE DAS DING MIT DEN TOTEN KÄFERN EINFACH NICHT.

Mal zerquetschte ich den Kopf mit der Pinzette, mal fielen die Flügel auseinander. Am besten war ich noch an den Beinen – aber auch das: NOTE: 2.

ICH WAR NICHT ZUM SEZIEREN GEBOREN.

Um ehrlich zu sein – mich schauderte vor dem Gestank. Mich schauderte vor dem seltsamen Schleim, der aus den Toten quoll. Mich schauderten die herumliegenden Zacken-Beinchen.

ES WAR DER ABSOLUTE MAIKÄFER-HORROR.

Nach dem Maikäfer kam dann übrigens der Frosch. Damit war ich besser. Frösche lagen mir irgendwie. Ich bekam eine 4 für meine aufgezeichneten Froschschenkel und das französische Rezept dazu.

Irgendwann gab es keine Maikäfer mehr. Die einzigen, die noch herbeisurrten, waren jetzt aus Schokolade. Und sie trugen süsse rosa Schleifchen.

Das machte sie süsser als die Krabbeldinger auf den Heckenblättern.

UND JETZT DAS: EIN HALBTOTER MAIKÄFER AUF EINEM FENSTERSIMS.

«Hallo – lieber Maikäfer», flüstere ich noch einmal. Aber er bewegt sich nicht mehr. Er hat den Weg über den Regenbogen eingeschlagen.

Ich lasse ihn auf dem Fenstersims liegen.

Und lege die zerknüllte Serviette von der Butterbrezel darüber – ein papieriges Sterbetuch quasi.

DAS BEANTWORTET ABER NOCH IMMER NICHT UNSERE FRAGE, DIE DIESEM ARTIKEL VORANGING: WESHALB HAT ES NICHT MEHR ABFALLKÜBEL IN DIESER STADT?!

Dienstag, 29. Mai 2018