Vom Abschiednehmen in Wien und Erdnüsschen

Illustration Rebek ka Heeb

Ich packe.

Packen ist stets ein bisschen sterben: «Partir – c’est toujours mourir un peu», hat Mutter jeweils im dramatischen Ton einer Eleonora Duse das Gedicht von Haraucourt rezitiert.

Sie hockte dann mit ihrem recht üppigen Hintern auf dem Koffer. Und ich setzte mich auch drauf. So bekamen wir ihn überhaupt zu.

Die schweinslederne Kiste war nicht nur voll von Erinnerungen – sie war auch vollgepackt mit all diesen kleinen Andenken, dem grässlichen Bazar-Schnickschnack und den schillernden Geschenklein, die wir Freunden mitbringen wollten.

Zu Hause verloren die wunderbaren Sachen schlagartig ihren Reiz. Sie waren nur noch ein krummes Kamel, ein billiges Ohrgehänge aus farbigem Glas. Oder ein Stück Seife in schäbiger Kunstseide verpackt.

Wir genierten uns, diese Dinge, die alle in ihrer eigenen Umgebung und im Zauber des Ferienmoments entzückt hatten, weiter zu verschenken.

Zwei, drei Wochen staubten sie zu Hause auf dem Buffet herum. Dann kamen sie in die «Schachtel mit den guten Gaben». Und so an irgendeine Benefiz-Tombola.

WIR SIND DAMALS IN DEN 70ER- UND 80ER-JAHREN VIEL GEREIST.

ES WAR DER WUNSCH MEINER MUTTER: «Ich war wohl nicht die ideale Glucke, die man sich als Kind zur Seite wünscht – ich kann das auch nicht nachholen. Aber verbringen wir jetzt so viel Zeit als möglich miteinander …»

Einmal jährlich hat sie mich dann auf eine grosse Reise eingeladen. Immer sechs, sieben Wochen. Und es ging in alle Ecken der Welt.

Wenn wir am Ende der gemeinsamen Reise die Koffer wieder packten, war die Moral beider im Keller.

Es fühlt sich anders an als bei den heutigen 4-Tage-Trips.

Wenn du länger in einer Stadt oder an einem schönen Ort verweilst, ist es wie mit einer verpflanzten Geranie oder einem Rosenstock im neuen Topf – du fängst an Wurzeln zu schlagen.

Mutter schloss dann den Koffer dramatisch:

«Mais mourir, c’est partir pour de bon!»

Ungefähr: «Sterben aber ist für immer Abschied nehmen …»

Glimmerschutt in Erdnussform

Natürlich ist die Poesie von Edmond Haraucourt jedem irgendwie bekannt. Zumindest der Anfangssatz vom «Partir, c’est un peu mourir» oder so ähnlich. Mutter aber schleppte mich, als wir in Paris im «Scribe» wohnten, an einem Regentag auf den Friedhof Père-Lachaise. Sie zeigte auf ein ziemlich unschönes Marmorgrab: «Das ist er!»

«Wer?»

«Eben – Edmond Haraucourt. Der mit dem ‹Abschied nehmen ist immer ein bisschen sterben›. Hier hat er für immer Abschied genommen!»

Ich las auf der Inschrift, dass der Poet 1856 in der Haute-Marne geboren wurde. Und an einem 17. November in Paris starb – dies anno 1941.

DER ALTE SACK WURDE ALSO 85 – für jene Zeit beachtlich, beachtlich.

An all das muss ich denken, wie ich nun in meiner Wiener Wohnung auf dem dritten Koffer hocke. Und auch den nicht zubekomme.

Ich rufe Jana, die Hausmeisterin. Sie hat die Schwere der böhmischen Küche in sich.

ALL DIES BRINGT EINEN FEUCHTEN DRECK!

SIE HOPST MIT IHREM RIESIGEN HINTERGEWABBEL ZWAR WUCHTIG AUF DEN KOFFERDECKEL. UND SO WERDEN DIE VIER KILO MOZARTKUGELN ZU EINEM DICK-KLEBRIGEN BREI ZUSAMMENGEDRÜCKT – ABER DER KOFFER IST NOCH IMMER OFFEN! Jana schleppt eine Reisetasche an.

Der Sack ist fadenscheinig und stinkt derart nach Naphthalin, dass die Fliegen reihenweise von den Vorhängen fallen.

«Se hobens vyl z vyl Gschlomp aikauft. Roimens mol des Klump nausi …»

Ich kratze zuerst die Mozartkugeln von meinen Erdnüsschen. Die Pailletten-Erdnüsschen habe ich bei den Türken am Naschmarkt entdeckt. Ich weiss nicht, was die Türken mit Pailletten-Erdnüsschen machen. Aber bei mir machte es sofort – klickedicklickedi – ich sah sie von grünen Tannenästchen auf dem Weihnachtstisch funkeln. Deshalb: «Geben sie mir zehn Stück!»

Innocent hat es mitgekriegt. Und sich sofort den Flachmann angesetzt.

Seine Nerven lagen brach: «SPINNST DU! WAS WILLST DU MIT DIESEM GLIMMERSCHUTT IN ERDNUSSFORM?!»

Man sieht, dass bei ihm punkto Fantasie ein ZERO herrscht. Null. Niente. Nada.

Mittlerweilen hat der aufgeregte türkische Verkäufer seine Tanten, vier Mütter und die Vettern vom Nebenstand organisiert. Sie küssen mir die Hände. Und bringen Tee im Gläschen.

«Ist das Schnaps?»

«ES SIND MUSLIME!»

Innocent schweigt beleidigt. Nimmt einen Schluck aus dem Gläschen. Und schüttet dann aus dem Flachmann nach …

ICH SEHE NUN, DASS ES SICH BEI DEN ERDNÜSSCHEN IM GLIMMERKLEID UM GANZE KETTEN HANDELT.

O. k. Ich weiss auch nicht, was die Türken mit Erdnussketten anstellen. Aber ich kann ja jetzt nicht mehr tuntig abwinken: «Aber lieber Mann – z w e i Nüsschen genügen mir total!»

Also verpackten sie zehn Ketten mit je 30 verglimmerten Erdnüssen dran.

NOCH FRAGEN?!

«Die Sonne scheint für alle»

Sie stellten drei abgefuckte Tragtaschen vor mich hin – «GUTES FEST FÜR ‹SÜNNET›», strahlte die Krämerfamilie uns an. «Ist immer schönes Dekoration für Beschneidungsfest …»

Na gut. Ich finde ja schon lange, wir sollten das mit den Bräuchen und Religionen nicht so eng sehen. Und deshalb freue ich mich riesig auf meinen erdnussigen Weihnachtstisch alla «Sünnet».

DER PREIS IN DER HÖHE EINES SILBERNEN TEESERVICES WAR EINIGERMASSEN IM RAHMEN. ES SIND IMMERHIN 300 ERDNÜSSE MIT PAILLETTEN BESTICKT!

Jedenfalls: Innocents Flachmann war nach dem Kauf leer. Und mein Koffer jetzt zu voll.

Jana weint, wie ich ihr die Schlüssel übergebe – ihr slawischer Busen wiegt auf und ab wie ein Fischerbötchen bei Sturm: «In Ukraine sagen Lait – ABSCHIED SAAN IMMER WIE BISSCHEN STÄÄRBEN, BITTÄSCHÖN …»

Haraucourt war auch in Odessa!

Der Himmel hat sich bewölkt.

Die ersten Regentropfen klatschen an die Autoscheibe. Innocent schiebt eine CD rein: «Die Sonne scheint für alle … holldrioo.»

Es ist eine andere Art von Sterbe-Poesie – und nicht von Edmond Haraucourt.

Sondern von den Kastelruther Spatzen …

Dienstag, 22. Mai 2018