Von der sizilianischen Sonne in Rom und dem Tod

Illustration: Rebekka Heeb

Anna und Renato sind unsere Freunde.

W A R E N FREUNDE.

Sie sind jetzt über den Regenbogen gegangen – wie die Menschen so schön sagen.

UND ICH VERMISSE SIE.

Roberto hat uns vor einigen Jahrzehnten erstmals zu ihnen gebracht.

Innocent und ich wurden mit einem verlegenen Lachen auf die Begegnung vorbereitet: «Sie sind eigen. Etwas skurril. Aber denkt daran: sie kommen aus Pachino. Von dort, wo die sonnigsten Tomaten der Welt wachsen.»

Und dann etwas abrupt: «DAS LEBEN IN SIZILIEN IST EBEN ANDERS!»

«WESHALB? HABEN SIE EINEN AN DER WAFFEL?», erkundigte sich Innocent wie immer direkt auf seine charmante Art.

Roberto schaute ihn lange an:

«SIE LIEBEN EINANDER. AUCH NACH EINEM HALBEN JAHRHUNDERT NOCH. SIE LEBEN NUR IHRE LIEBE. FÜR UNS KINDER WAR DAS NICHT IMMER EINFACH. WIR WAREN DA. ABER WIR LEBTEN STETS IRGENDWIE AUSSERHALB IHRES SONNENKREISES.»

Renato und Anna wohnten in Trastevere. Damals gehörten die engen Gassen zu einem der armen, aber typischen Quartiere von Rom. Nun ja – ich würde sagen: das Gundeli am Tiber.

Heute ist Trastevere wie so vieles in der Ewigen Stadt eine neu geschriebene Geschichte: Austern-Bars, Abhängen bei Spritz und Prosecco, Touri-Massen, die wie Schafherden durch die schmalen Strassen geführt werden. Jeder erwartet eine Fellini-Szene.

NATÜRLICH UMSONST.

Trastevere ist heute das Rom, wo Pinocchio als Eiskasten-Magnetchen aus China kommt.

RENATO UND ANNA EMPFINGEN UNS HERZLICH – SO MIT DEN WORTEN: «DIE FREUNDE VON ROBERTO SIND AUCH UNSERE FREUNDE.»

In der Wohnung hingen viele Heilige. Und viele Peperoncini.

BEIDES SIND SYMBOLE VON SIZILIEN. UND ALLE HELFEN DEN HAUSBEWOHNERN, DAS LEBEN IM KALTEN NORDEN ZU BEWÄLTIGEN.

Als 16. Sohn einer Bauernfamilie hatte Renato auf Sizilien null Chancen. Mit 16 heiratete er Anna. Sie gingen in Palermo aufs Schiff: «Wir hatten keine Koffer – nur vier Kartonschachteln, die mit Schnüren zusammengebunden waren.

In einer der vier Schachteln waren die Heiligen. Und in den übrigen drei all die Sachen, die ein Sizilianer zum Leben braucht: die Gewürze seiner Felder, gesalzene Ricotta und die Vulkanasche, die bei uns an Weihnachten mit gekochtem Wein zu Kuchen gebacken werden.»

Natürlich hatten sie Probleme, in Rom eine Arbeit zu finden. Aber Sizilianer haben stets irgendeinen Onkel, der eine Cousine hat, die jemanden kennt, der …

Es ist Ehrensache, dass man der Familie hilft! Also kam das Paar bei einem Vetter der Frau unter.

Anna fand Arbeit in einer Wäscherei – Renato arbeitete als Tagelöhner auf Baustellen.

SIE LITTEN AN HEIMWEH. ABER WENN SIE ABENDS NACH HAUSE KAMEN UND EINANDER UMARMTEN, WAR DAS WIE DIE SONNE IN SIZILIEN: IHRE LIEBE WÄRMTE SIE AUF. OHNE DIESE LIEBE WÄREN SIE ERFROREN.

Sie bekamen Kinder: drei Töchter, einen Sohn.

Anna war jetzt Mutter und Hausfrau –

Renato kam zur Polizei.

Dreimal jährlich fuhr die ganze Familie auf die Insel in den Süden. Die Alten weinten auf der Rückreise – die Jungen freuten sich auf ihre «amici» in Rom.

Eines Tages – wir waren nun öfters bei Anna und Renato zur legendären «Pasta Norma» eingeladen – spürten wir: Irgendetwas stimmt nicht mit den beiden.

WO FRÜHER ANNA STETS AUF IHRE FRÖHLICHE ART DOMINIERT HATTE, ÜBERNAHM NUN RENATO – ER SERVIERTE DIE PASTA, TRUG DIE TELLER IN DIE KÜCHE, MACHTE DEN KAFFEE.

Und immer wieder nahm er sie in die Arme.

«Wunderbar, wenn man einander so lieben kann», seufzte ich auf dem Heimweg.

Eines Tages weinte Roberto bei uns: «Mamma hat diese schreckliche Krankheit, bei der man alles und auch sich selber vergisst. Papa versuchte es vor uns zu verbergen. Nun ist er 24 Stunden um sie herum; er lehnt jede Hilfe ab.

‹ANNA IST EIN STÜCK VON MIR!›, hat er uns letztes Mal angeschrien, als wir eine Klinik vorschlugen. ‹IHR KÖNNT UNS GENAUSO GUT ZUSAMMEN UMBRINGEN!›»

Als wir erfuhren, dass Anna gestorben war, fuhren wir sofort von der Insel nach Rom.

Unsere Freundin lag aufgebahrt in ihrem Schlafzimmer. Und wie es in Sizilien oder in ländlichen Gegenden eben Sitte ist: Man gibt der Toten den letzten Gruss auf die lange Reise mit.

Anna sah in ihrem roten Kleid wunderschön aus. Ihr Gesicht lächelte verträumt. UND STRAHLTE AUCH IM TOD NOCH DIESE LIEBE AUS, DIE SIE FÜR RENATO STETS HATTE.

Er aber sass am Stubentisch. Heiter. So fröhlich, wie wir ihn nie zuvor gesehen hatten.

Als wir ihm kondolierten, lachte er: «Aber, aber, es ist doch niemand gestorben.»

Dann rief er seinem Sohn zu: «Schenke deinen Freunden von unserm Wein ein!»

Er schloss die Augen. Und schlief am Tisch ein.

Am andern Tag rief Roberto an: «Wir wollten ihn wecken, als die Männer Mamma im Sarg aus der Wohnung trugen. Für einen letzten Gruss. Aber er hat nur stumm den Kopf geschüttelt!»

RENATO HATTE DEN TOD SEINER FRAU EINFACH AUSGEBLENDET.

SEIT JENEM TAG HAT ER NIE MEHR EIN WORT GESPROCHEN. STETS HIELT ER DIE AUGEN GESCHLOSSEN – UND WARTETE …

«Es ist so weit!», meldete Roberto vorgestern.

ERNEUT DIE FAHRT VON DER INSEL NACH TRASTEVERE.

ALS WIR RENATO IM ALTEN SCHLAFZIMMER LIEGEN SAHEN, ALS ER DA IN SEINEM BESTEN ANZUG AUF DEM BETT FÜR IMMER SCHLIEF, DA WAR AUCH WIEDER DIESES GLÜCKLICHE LÄCHELN VOLLER LIEBE – DIESER LIEBE, DIE IHM UND ANNA DIE SONNE IM NORDEN BEDEUTET HATTE.

Dienstag, 30. Januar 2018