Die Wahrsagerin

Sie mischte die leicht angegilbten Karten. Dicke Samtvorhänge verdunkelten das Zimmer. Eine Kerze flackerte. Und Frau Tamara trug ein Kopftuch mit Fledermaus-Muster.

Lore schaute ängstlich zu, wie Tamara nun die Karten langsam vor sich ausbreitete. Und eine davon herauszupfte. «Das sind Sie, Frau Blunschli», flüsterte Tamara geheimnisvoll.

Lore lächelte geschmeichelt. Die Dame auf der Karte sah so überlegen aus. Selbstsicher. Und schön. BEI LORE BLUNSCHLI: NICHTS VON ALLEDEM.

«Sie haben ein Problem, Frau Blunschli... etwas schleicht wie eine dunkle Viper über Ihre Seele und...» OH, WIE RECHT FRAU TAMARA HATTE! SIE WAR WIRKLICH EINE HELLE HELLSEHERIN.

Lore Blunschlis Hugo hatte nämlich an den Mittwoch-Abendessen plötzlich gefehlt. Dabei war Lore – UND DAS BESTÄTIGTE JEDER! – eine göttliche Köchin. Sie gab auf der Pfanne alles. Doch dieser Schuft wusste so etwas nicht zu würdigen!

SEIT DREI MONATEN TRAF ER SICH MIT FRÄULEIN MÜLLER JEDEN MITTWOCHABEND IN EINEM HOTEL! SO EIN SCHWEIN! UND DANN MIT DIESEM HUHN VON EINER SEKRETÄRIN! Die konnte nicht einmal ein Ei braten – das hatte sie an der letzten Einladung bei den Blunschlis selber zugegeben! Lore heulte sich die Augen aus. «Es ist ein Mann, nicht wahr ...», erkundigte sich Frau Tamara gefühlvoll.

Sie pflückte wieder eine Karte (diesmal ist es etwas Tierartiges): «Die Wildsau bringt viel Tumult...»

«Ohh jaa ...», snifft nun Lore ins zerdrückte Papiertaschentuch: «ES IST MEIN HUGO. DAS SCHWEIN BETRÜGT MICH SEIT DREI MONATEN MIT DIESER SAU!»

«Ich verstehe...», flüsterte Tamara. UND ZEIGTE AUF EINE AUFGEDECKTE PAUKE: «Aber die Wildsau weiss, wie man die Borste vibrieren lässt...»

Lore schaute unsicher auf: «Bitte was?»

«SIE HAT ANDERE QUALITÄTEN!», antwortete Frau Tamara nun etwas schroff.

«Ja», seufzte Lore Blunschli ergeben: «Die Müller ist als Sekretärin nicht schlecht – auch wenn sie nie der Akkusativ benutzt...»

Wieder Gemurmel von Frau Tamara. Und den Zeigefinger auf einem Fisch mit Krone: «Da kommt eine grosse Veränderung auf Sie zu, Frau Blunschli... das macht 50 Franken. Bitte keine Kreditkarte.»

Lore Blunschli zupfte enttäuscht die Note aus dem Portemonnaie. Sie hatte sich etwas mehr von «FATIMA – DIE FRAU, DIE IHNEN DEN WEG MIT DER KARTE ZEIGT!» erwartet. Deshalb: «...und wie soll es jetzt weitergehen?»

Fatima zählte innerlich auf zehn. Dann lächelte sie: «Am Schluss ziehen alle Männer einen Hausmannsbraten der Pauke vor ...» GROSSES FRAGEZEICHEN VON LORE BLUNSCHLI. UND DIE INNERE STIMME DER WAHRSAGERIN: «Tamara Müller-Braun. Du warst mal eine super Programmiererin. Weshalb musst du dir mit solchen Dumpfbirnen deine Nerven ruinieren?!» Deshalb: «ER KOMMT ZURÜCK!» Das half immer.

Nach diesen Worten gingen sie alle mit Glanz in den Augen und der Hoffnung im Herzen.

Als Lore heimkam, duftete es verführerisch nach Gebackenem – schon kam Hugo Blunschli mit einem Geschirrtuch in der Hose auf sie zu: «TATATATAAA! HOCHZEITSTAG. NATÜRLICH HAST DU ES WIEDER VERGESSEN...»

Lore schaute jetzt verunsichert auf ihren Mann. «...und um dir eine Überraschung zu bereiten, habe ich in 12 Mittwoch-Kochstunden gelernt, wie man einen königlichen Salm im Teig zubereitet. Die Müller kam auch mit – sie heiratet nächsten Monat. Und will dann ihren Alten so gut bekochen können, wie mein Mausi mich...»

ER NAHM SIE IN DIE ARME. «Oh, Hugo...» Lore heulte Hugos Geschirrtuch nass.

SIE WOLLTE AM NÄCHSTEN TAG FATIMA EIN STÜCK KUCHEN BRINGEN. DIE HELLSEHERIN HATTE DIE VERÄNDERUNG VORAUSGESAGT! Doch an der Türe klebte ein Zettel: «KARTEN ABGELAUFEN».

Tamara Müller-Braun arbeitet jetzt wieder als Programmiererin.

Freitag, 26. Januar 2018