Der Räppler

Die Münze funkelte im Strassengraben. Fritz stützte sich auf seinen Stock. Er lächelte: «EIN RÄPPLER – DAS BRINGT GLÜCK!» Und Fritz konnte ein bisschen Glück im neuen Jahr gut brauchen.

ER BÜCKTE SICH. KRATZTE DAS RÖTLICHE GELDSTÜCK VOM SCHMUTZIGEN BODEN. Dann wurde es schwarz um ihn. Das Letzte, was er hörte: ALARMSIRENEN. Und das Erste danach eine sonore Stimme: «Schwere Kopfverletzung… Schambeinbruch… Wir geben nochmals Schmerzmittel…»

DANN DÄMMERTE ER WIEDER WEG.

In seinem Traum war er der kleine Junge, der die Milchkästchen im Quartier abfilzte. Die gestohlenen Ein- und Zweiräppler versilberte er im Emma-Laden von Fräulein Müller. Er kaufte damit Colafrösche. ALS DIE DUMME KUH SEINEN ELTERN EINEN TIPP GAB, RASTETE DER ALTE AUS: ES GAB PRÜGEL. UND STUBENARREST.

Künftig konnte er keinen Räppler im Mund einer Marzipansau sehen, ohne an Prügel denken zu müssen.

Viele Jahre später lehrte ihm Lisa, dass ein gefundener Räppler Glück bringt. Doch mittlerweile war so ein Räppler nur noch selten im Umlauf. Und das Glück somit rar.

Kurz bevor Paul zur Welt kam, hatte Fritz dann tatsächlich einen Einräppler vor der Haustüre entdeckt. «Sieh mal, was ich gefunden habe – das bringt uns Glück!» – strahlte er seine schwangere Lisa an. PAUL WURDE DAS GROSSE GLÜCK DER BEIDEN.

Aber das Glück hielt nicht an. Lisa starb früh. Und Paul wurde eine arge Enttäuschung: Er heiratete eine Brasilianerin. AUSGERECHNET. ALS OB ES NICHT GENUG BRAVE SCHWEIZER MÄDCHEN GEBEN WÜRDE!

Fritz hustete seinem Sohn zünftig die Meinung! Paul nannte den Vater einen Betongrind. Und verteidigte seine Verlobte: «Sie ist eine grossartige Krankenpflegerin. Und eine wunderbare Frau…» «Leck mich!», tobte Fritz.

Es kam zum grossen Bruch. Paul telefonierte seinem Vater noch zu Weihnachten. Schliesslich überhaupt nicht mehr.

FRITZ HATTE SEINE SCHWIEGERTOCHTER NIE GESEHEN. «Sie können mir beide gestohlen bleiben…», knurrte er vor Lisas Grabstein. Lisa gab keine Antwort.

Fritz fühlte sich von der Welt im Stich gelassen, von Lisa. Von Paul. Vom Glück.

Eines Tages meldete sich eine sanfte Frauenstimme am Telefon: «Ich bin Letizia – deine Schwiegertochter, ich glaube, wir sollten reden!»

«Leck mich!» (Fritz war wirklich ein Betongrind!)

Er erwachte jetzt. Und spürte einen bohrenden Schmerz. Eine Frau drückte seine Hand. Sie lächelte ihn an: «Alles ist gut… Sie sind auf den Trottoirrand gefallen… Was haben Sie nur gesucht…?» Fritz versuchte ein Lächeln: «Das Glück… Ich habe mich nach dem Glück gebückt… Ein Räppler lag da und…»

DIE FRAU STREICHELTE SEINE HAND. DER ALTE MANN SEUFZTE: «SIE DENKEN BESTIMMT, ICH SEI EIN SENTIMENTALER ALTER TROTTEL…»

«Überhaupt nicht», lächelte die Krankenschwester. Sie machte eine Pause. Und sagte dann leise: «Das Glück zeigt sich den Menschen nur selten… Doch wenn es da ist, muss man zugreifen… Und darf es nicht mehr loslassen.»

Jetzt lächelte auch Fritz. Die Frau hatte einen warmen Blick. Er fühlte sich plötzlich leicht.

Ein Weisskittel kam ins Krankenzimmer: «Wie geht es unserem Patienten mit dem Einräppler in der Faust…?», rief er jovial. Lachend ging er auf Fritz zu: «Sie haben ihren Räppler festgehalten, als ginge es um Leben und Tod…»

«Man muss das Glück immer gut festhalten», sagte die Schwester zum Arzt. Und zwinkerte Fritz zu. Der Mediziner grinste zum Patienten: «Eine weise Frau, unsere Schwester Letizia…»

Letizia?

FRITZ SCHLOSS DIE AUGEN. KLAR. DAS WAR IHRE STIMME!

Sie drückte wieder sanft seine Hand: «Paul ist bereits auf dem Weg hierher…»

Fritz wiederum drückte den Räppler, den sie ihm zugeschoben hatte. «Danke», flüsterte er.

Freitag, 29. Dezember 2017