Vom Glanz der Familienweihnacht und Frikadellen

Illustration: Rebekka Heeb

«Ich lass mir das von diesem verhutzelten Rumpelstilzchen einfach nicht mehr bieten!»

Wir lauschten an der Küchentüre.

Eigentlich brauchten wir gar nicht zu lauschen: Mutters Stimme schallte durchs ganze Quartier. Und brachte selbst das Spalentor zum Wanken.

Mit anderen Worten: DIE GUTE MAMMA WAR VOLL DRAUF – UND DAS WAR SIE IMMER, WENN ES UM IHRE SCHWIEGERMUTTER GING.

Seltsam – die Gattin meines Alten war der grosszügigste Mensch, den ich kannte. Sie verschenkte harte Anisbrote und weichgestrickte «Haafedatze» an alle Freundinnen ihres Gatten: «Ein paar harte Momente – und etwas für heisse Pfannen!» (Mutter hatte einen ziemlich speziellen Humor.)

Sie winkte sogar lächelnd ab, als mein Vater auch mit ihrer Schwester ein Techtelmechtel anfing («Was regt ihr euch alle auf – wenn es ihnen doch Spass macht?!»). Ja, sie teilte auch mich grosszügig mit allen Grossmüttern, Onkeln und Tanten.

NUR BEI DER KEMBSERWEGOMI SCHÄUMTE SIE VOR EIFERSUCHT.

Und mein Vater schürte diese Eifersucht geschickt: «Niemand ist so grossherzig wie die Omi; sie würde gar ihre Unterwäsche für andere hergeben.»

MUTTER SCHAUDERTE: «ALLEINE SCHON DER GEDANKE AN IHRE ALTEN LAPPEN, HANS – NEIN DANKE!

Verlauster Klammeraffe
Lass mich mit deinem verlausten Klammeraffen in Ruhe. Und nable endlich ab.»

Sie butterte dann meinem Vater einen Hunderter auf die Kralle. Sie hatte das Geld – und er die Jokerkarte mit der gutgütigen Omi.

ALLERDINGS. DIE JOKERKARTE HATTE IMMER DEN LETZTEN STICH!

Vor Weihnachten gings um die Frikadellen. ES GING DA IMMER UM DIE FRIKADELLEN!

Die Omi war nämlich ganz gross in Fleischküchlein.

Die Kembserweg-Grossmutter war überhaupt ein Küchen-Champion. In der heutigen Bildschirm-Epoche würde sie an jedem Pfannenwettbewerb beim Fernsehen gross abräumen.

Aber damals: «WENN DIE AM 24. WIEDER MIT EINEM TELLER VOLLER FRIKADELLEN AUFKREUZT, SATTLE ICH DIE PFERDE. UND HAU AB!»

Es war nämlich so: Mutter war punkto Kochkunst eine Null. Und das ist hier auf diese Art sehr nett gesagt. «UNTERNULL» würde es besser treffen.

Mutter nutzte die Gunst ihrer Zeit: und somit alle Sorten von Büchsenravioli oder die ersten panierten Fischstäbe aus dem Tiefkühl-Fach.

Sie kaufte nach der Hochzeit als Erstes einen Büchsenöffner. Und sie lobpreiste all die wunderbaren neuen Einrichtungen, die ihr dabei halfen, sie vom Herd und der Rüsterei zu dispensieren. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte Herr Knorr für seine Beutel-Tomatensauce den Nobelpreis verdient.

Vater sah es anders – vor jedem Bissen Büchsenkost, den er in sich reinschaufelte, schüttete er zum Trost Maggi übers Ganze.

Maggi war das Weihwasser der schlechten Küche. Es hexte alles Diabolische weg.

Also hebelte er das Fläschlein über die Büchsenravioli. Und jammerte dann: «Also wie bei Mammi schmeckt es nicht!»

DANN BEBTE WIEDER DAS SPALENTOR!

Am Heiligen Abend aber wollte die Omi «dem Hansi» jeweils eine besondere Weihnachts-Freude bereiten. Und brachte stets ihre Fleischküchlein mit.

Wo andere auf goldenen Kartontellern Anisbrote und Totenbeinchen zum Fest mitschleppten, kreuzte die Omi mit Frikadellen auf.

SCHON WENN SIE DAS HAUS BETRAT, ÜBERDUFTETE DER VIELE KNOBLAUCH MUTTERS «MANDARINENDUFT», DEN SIE AM MORGEN LIEBEVOLL AUS DER SPRAYBOMBE IN ALLE ECKEN DES HAUSES ZISCHEN LIESS.

Und wenn Mutter dann an den Tisch zu diesen Dörrbohnen, die jeweils so hart wie Elektrokabel waren, bat, wenn sie das Schüfeli – trocken wie englischer Humor – in Späne säbelte und dann zum Trost erklärte: «Das Dessert habe ich nicht selber gemacht!» – da mischte die Omi den Abend auf.

Sie zog eine vergammelte Blech-Gamelle, in der sie jeweils das Mittagessen ihrem «Julius» in die Gärtnerei gebracht hatte, aus der Gummitasche.

DER DUFT NACH KNOBLAUCH EXPLODIERTE JETZT WIE EINE TISCHBOMBE.

Und die Omi strahlte ihre Schwiegertochter an: «Sei mir nicht krumm, Lotti – deine Bohnen kriege ich beim besten Willen nicht runter! Ich weiss, dass du es gut meinst, aber für Hansi und mich habe ich wie jedes Jahr Fleischküchlein mitgebracht. Die hat der Bub doch so gerne – nicht wahr, Hansi?»

DER BUB LIEBTE SIE NICHT ALLEINE.

WIR ALLE GIERTEN NACH DER VERBEULTEN, BLECHIGEN GAMELLE MIT DEN FRIKADELLEN DRIN.

Schon knallte die Tür
Die Sau-Späne blieben unter den Elektrokabeln vergraben. Mutters Essen wurde nicht angerührt.

Schon knallte sie die Türe, sodass die Rottanne erschreckt alle Nadeln abwarf.

Und so ist in mir auch heute noch ein Weihnachtsbild von einem kahlen Baum mit schwingenden Kugeln dran.

Die Frikadellen der Omi kamen Jahr für Jahr – so sicher wie ihr Witz vom Trämler und der Nonne. Oder das stets zu hoch angestimmte «Stille Nacht».

Und wenn die kleine, alte Frau, die sich mit Böden schrubben ihr Geld verdiente, zur Bescherung noch jedem ein Couvert in die Hände drückte: «Viel ist es nicht – aber ich habs mir vom Mund abgespart!», da war Mutter bereits geschlagen. Und legte bei Vater nochmals fünf Scheine auf der Zigarrenkiste nach – denn wie gesagt: Sie hatte das Geld. Aber die Omi war Vaters Jokerkarte.

UND DIESE GEWANN JEDES SPIEL!

Es kam der Tag, an dem das alte Backsteinhaus am Kembserweg leer stand. Und die Omi ins Altersheim zog.

«Weshalb kann sie nicht bei uns wohnen?» – löcherte ich Mutter.

Ein Blick von ihr liess jede Diskussion einfrieren: «Wir holen sie am Muttertag, am Geburtstag – und zum Heiligen Abend. Im Übrigen habe ich ihr das schönste Zimmer mit Aussicht in den Park genommen.»

Die Familienfeten uferten aus
Sie rechtfertigte sich nun vor sich selber: «Sie bekommt einen Makramee-Kurs für Linkshänder, einmal in der Woche Waschen-Legen beim Frisör und neue Zähne – KANN EINE SCHWIEGERMUTTER VON DER FRAU IHRES SOHNES, DIE SIE JEDES JAHR MIT DIESEN VERDAMMTEN SCHEISSKÜCHLEIN BLOSSSTELLT, MEHR VERLANGEN?»

Die Omi wurde nun stiller.

Wenn wir fragten, wie es ihr gehe, lächelte sie stets etwas hilflos: «Es ist wie in einem grossen Hotel – ich bin nicht gewohnt, bedient zu werden; ich komme mir so nutzlos vor!»

«DU HAST LANGE GENUG GESCHUFTET!», knurrte dann meine Mutter jeweils. Und schaute fast ein bisschen gerührt auf die alte Frau in dem viel zu weiten, schwarzen Kleid.

Die Familienfete am Heiligen Abend uferte nun langsam aus. Immer mehr Gäste sassen am Tisch – meine Cousinen brachten ihre jungen Männer mit. Die Cousins tauchten mit Lebensabschnitts-Partnerinnen und einer Flut von Patchwork-Brut auf.

Auch Vaters Freundinnen sassen auf Anordnung der Mamma vor den Tellern («Du kannst diese armen Weiber an Weihnachten doch nicht alleine zu Hause lassen, Hans!»).

DAS BESTE ABER: MUTTER STAND NICHT MEHR IN DER KÜCHE!

In der Zeitung hatte sie sich auf ein Inserat «ALBERT BÜGELT IHR FEST!» gemeldet.

Albert war einer der ersten Störköche der Stadt. Und Mutter griff zu (sprichwörtlich).

DER HEIMKOCH WAR EINE ECHTE PERLE – EIN GENIE AN DER PFANNE – NACH DER TROCKENEN DÖRRBOHNEN-PERIODE STARTETE ENDLICH DIE SAFTIGE HALLELUJA-ZEIT.

VATER LIESS SOGAR DAS MAGGIFLÄSCHLEIN IM KÜCHENKASTEN!

Doch dann kam die Katastrophe: Zwei Tage vor dem Heiligen Abend lag der Küchenchef unseres Weihnachtsessens mit Fieber im Bett. Diagnose: Grippe. Also kein Krippenspiel mit dem grippigen Albert.

Mutter erwartete 30 Gäste. Sie war fix und foxi. Nicht mehr ansprechbar. NUR NOCH EIN HERUMHASTENDES NERVENBÜNDEL.

Stundenlang telefonierte sie in der Weltgeschichte herum. Jammerte und stöhnte («Wie schaffe ich das? Was mache ich nur?!»).

Für einmal half da weder ihr Geld noch ihr Charme.

AM FRÜHEN MORGEN DES 24. JAGTE SIE UNS ALLE AUS DEM HAUS: «KOMMT MIR JA NICHT VOR DEM APERO HEIM!»

Dann versuchte sie ein Lächeln: Es gibt eine Überraschung; ich hoffe, sie gelingt.»

«Leck mich!», jammerte Vater. Und holte schon mal das Maggi-Fläschlein aus dem Kasten hervor.

Als dann aber die Gäste im grossen Zimmer am Tisch sassen, als hin- und herspekuliert wurde, ob wohl wieder das Schüfeli auf den harten Dörrbohnen oder ein chinesisches Fondue zum Zug kommen würde, da überdeckte plötzlich eine Wolke von Knoblauch allen Lebkuchen- und Tannensprayduft.

MUTTER TRUG EINE RIESIGE PLATTE INS ZIMMER – DARAUF GLÄNZTEN KÖSTLICHE FLEISCHKÜCHLEIN.

«Das schmeckt wie bei meiner lieben Mammi», strahlte mein Vater.

Hinter Mutter tauchte dann auch prompt die Omi auf: «Hansi – die sind nicht alle für dich. Es hat 150 Stück. Fünf Hackfleischküchlein für jeden.»

Keine einzige Omi-Frikadelle ist damals übrig geblieben.

Mutter nahm die alten Hände ihrer Rivalin: «Anna – ich bin einfach eine dumme, eifersüchtige Kuh gewesen. Kannst du mir so etwas vergeben? Wie wäre ich heute ohne dich dagestanden?! Danke, dass du mich an diesem Heiligen Abend gerettet hast.»

SIE SCHNÄUZTE SICH: «Und wenn ich alle die leeren Teller sehe – Albert kann abdanken; du bist tausend Mal besser als dieser Küchenwixer.»

Die Omi aber nahm ihre Schwiegertochter in die Arme: «Du hast mir das schönste Fest meines Lebens geschenkt, mein Kind! Ich wurde endlich wieder einmal gebraucht, war nützlich, konnte etwas BEITRAGEN – das ist es, was wir im Alter am meisten vermissen: gebraucht zu werden.»

Ein ganz besonderer Moment
Es war nun ganz still im Zimmer.

Man hörte nur das Singen eines Kinderchors aus dem Fernseher des Nebenhauses.

Und jeder von uns spürte, dass dies ein ganz besonderer Heiliger Abend war.

DREI MONATE SPÄTER HABEN WIR DIE OMI BEERDIGT.

Vier Jahre danach auch meine Mutter.

Der Glanz der alten Familienfeier erlosch. Eine neue Generation rollte an – und mit ihr das chinesische Fondue. Statt harten Dörrbohnen kommen weiche Sushis, statt Schüfeli eine vegane Lasagne.

Geblieben sind uns allen die Erinnerungen – und natürlich das Maggifläschlein für alle Fälle …

Samstag, 23. Dezember 2017