Er zog den Christstollen aus dem Backofen. Der Kuchen duftete herrlich – Pierre machte sich an die dicke Zuckerkruste. Drei Nachmittage lang hatte er einen Backkurs besucht.
Pascal, sein Sohn, hatte ihn liebevoll in die Arme genommen: «Du stresst dich einfach zu viel, Pa – sie bekommt es nicht mehr mit. Lass los!» LOSLASSEN? – NIE! WIE KONNTE ER ETWAS LOSLASSEN, DAS MIT IHM ZUSAMMENGEWACHSEN WAR? Er konnte Annick jetzt nicht im Stich lassen – auch wenn sie nicht mehr die Annick war, mit der er 42 Ehejahre geteilt hatte.
Sie waren ein ganz normales Paar gewesen. Mit vielen Hochs (etwa als er zum Vizedirektor der Bankfiliale befördert wurde) –, aber auch mit Turbulenzen (die kurze Affäre mit seiner Mitarbeiterin Ellen).
Sie leisteten sich zwei Mal Ferien im Jahr. Einmal Ligurien. Einmal Berner Oberland. Und sie schickten Pascal zur Belohnung für die bestandene Master-Prüfung auf eine Weltreise. SIE WAREN ZUFRIEDEN. MANCHMAL GLÜCKLICH. Annick war eine wunderbare Hausfrau. Ihre grosse Freude war das Backen. Berühmt war sie für den Weihnachtsstollen (Rezept der Oma aus Dresden) – das Besondere war die dicke Butter-Vanille-Schicht, die dem Kuchen das einzigartige Aroma verlieh: «Die Kruste ist das Geheimnis – Pierre!», erklärte Annick jedes Mal, wenn sie den Stollen zum Weihnachts-Frühstück auf den Tisch brachte. NUN GAB ES SEIT VIER JAHREN KEINEN STOLLEN MEHR. Die Veränderung war schleichend gekommen. Zuerst kleine Unachtsamkeiten, die Pierre nicht gross beachtete. Dann vergass Annick, das Nachtessen zuzubereiten. Doch erst als er sie kopfschüttelnd vor der Geschirrwaschmaschine fand und ihr weinerliches Stammeln vernahm «wie geht das denn?» – da war Pierre erstmals alarmiert.
Der Hausarzt schickte sie zur Abklärung in die Memory-Klinik. Sie wurde immer mehr von einem grauen Nebel verschluckt. Sie entfernte sich Woche für Woche, tauchte ab in diese Welt der dahinschwebenden Schwaden – eine Welt, die er nicht verstand. Und wo sie ihn genauso wenig verstehen konnte.
«Vielleicht sollten sie Ihre Frau in eine Klinik geben...», meinte die Frau von der Alzheimer-Vereinigung. «Es wird zu viel für Sie...» PIERRE DACHTE NICHT DARAN – WOLLTE GAR NICHT DARAN DENKEN. Er lebte nun jede Minute sehr intensiv mit Annick – bewusster als je davor.
Eines Tages vergass sie seinen Namen. Vergass ihn. Und schaute erschrocken in den Spiegel: «Was tun Sie in meinem Badezimmer – gehen Sie!» Wenn er sie berühren wollte, zuckte sie zusammen. Ergriff er ihre Hand, zog sie diese schnell zurück.
Noch einmal wollte er mit ihr Weihnachten feiern – Weihnachten wie früher. Deshalb: der Backkurs. Und Weihnachtsstollen.
Als er dann am Weihnachtsmorgen den weiss überpuderten Kuchen zum Frühstückstisch in die Küche brachte, sass Annik bereits am Tisch. Sie schaute in den Vorgarten. Das Radio übertrug ein Weihnachtsoratorium aus Wien. Er schenkte Kaffee ein und schob ihr ein Stück vom Weihnachtsstollen zu. Sie nahm einen Bissen, mümmelte daran herum – plötzlich leuchteten ihre Augen: «Die Kruste ist das Geheimnis, Pierre!» Dann schaute sie wieder lächelnd aus dem Fenster. Regentropfen fielen wie Tränen von den Ästen. Er nahm ihre Hand. Und sie zog sie nicht zurück.