Ein Missverständnis und keine Weihnachtsgeschichte

Illustration: Rebekka Heeb

«…und bittascheen – kaane Männerbesuche!» – Die verwitterte Alte mit den kupferrot gefärbten Haaren und den Lockenwicklern drin schaute Nicole streng an.

«Schon recht», flüsterte die kleine Frau mit dem kleinen Rollkoffer. «Mir ist eh nicht nach Männern – danke.»

Der abgeholzte Rumpelbesen mit dem slawischen Akzent musterte die neue B&B-Kundin argwöhnisch: «Dääs soogen sie immer…»

Nicole war sich nicht klar, wer mit «sie» gemeint war. Die Frauen dieser Welt? Die Männer? Sie warf sich auf das schmale Bett. Und eine Staubwolke stieg wie Milliarden von Mini-Glitzersternchen zur Decke. Die war verpisst – elfenbeinfarbig mit rostbraunen Flecken. Vermutlich hatte da einer im oberen Stock vergessen, das Badewasser abzustellen.

Nun war Nicole also in Wien. Weshalb Wien, wusste sie selber nicht. Sie hatte keine Pläne, keinen Hotel-Voucher. Nichts. Nur die Kreditkarte.Nein. Sie hatte sich einfach heulend in den erstbesten Zug gesetzt. Und der fuhr auf den fröhlichen Namen «Wienerwalzer» ab.

Eigentlich hatte sie in Erwins Computer nur mal kurz googeln wollen, an welchem Wochentag das Ristorante Aroma geschlossen ist. Zusammen mit Marlies plante sie dort ein gemütliches Weihnachtsessen – Pasta. Und Frauengespräche. Basta!

Und wirklich nur rein zufällig öffnete sie da ein Mail, das Erwin mit dem Stichwort «ab nach Paris» an seine Sekretärin geschickt hatte: «DU BIST EINFACH DIE BESTE, NADINE – DANKE FÜR ALLES. ICH FREUE MICH RIESIG AUF PARIS!» Und dann stürzte die Welt ein.

Schon lange hatte sie vermutet, dass Erwin mit dieser Nadine Blum eine Nummer schob. «Mein Blümchen» – so schwärmte er daheim über den Spiegeleiern von der blöden Kuh. «Du glaubst gar nicht, wie kompetent sie ist, dazu bildschön und blitzgescheit … Reichst du mir das Aromat?»

Als Nicole sich später mal etwas misstrauisch nach einem Ehemann oder Lebenspartner dieser Nadine erkundigte, hatte Erwin Tränen gelacht. «Ein Mann? Aber d i e doch nicht. Die ist zu gut für jeden Mann!»

ALSO DAMALS HÄTTEN BEI IHR DIE ALARMGLOCKEN SCHELLEN SOLLEN! Nun – vielleicht musste es sein: Sie waren jetzt fast sieben Jahre verheiratet. Und man redet stets vom verflixten siebten Jahr. Also höchste Zeit, abzuspringen!

Nicole hatte nicht lange überlegt. Überlegen war nie ihre Stärke gewesen. Sie war ein Impulsmensch, handelte aus dem Gefühl heraus – «mein kleiner Vesuv», hatte Erwin sie immer genannt.

Sie hatte heulend den Rollkoffer gepackt. Und Erwin ein Billett hinterlassen: «Blumiger Spass in Paris … ich bin dann mal weg!» Nicole hatte die Notiz mit einem Anisbrot beschwert. «Soll er daran ersticken!», schluchzte sie.

Natürlich war von Schlaf in diesem rumpelnden Zug keine Rede gewesen. Im Internet hatte sie dann während der Fahrt die Adresse der kleinen «Bed and Breakfast»-Pension gefunden: «SISSITRAUM». Das Haus lag an der Währingerstrasse. Und hatte schon bessere Zeiten gesehen – die Zimmervermieterin auch.

Als Nicole auf ihrem Wiener Schragen aufwachte, hatte sie Rückenschmerzen. Und Hunger.

Es war jetzt Abend. Sie warf den Samtpelzmantel an. Und machte sich auf in die Stadt. Wien zeigte sich von seiner glanzvollsten Seite. Alles im Lichterglanz. Und überall trällerten die Sängerknaben aus den Lautsprechern «O Tannenbaum». Nicole mochte solche Weihnachtsstimmungen – ABER NUR, WENN IHRE WELT IN ORDNUNG WAR. WENN ERWIN I H R GEHÖRTE. UND VOR ALLEM: WENN ER NICHT MIT DIESER SCHLAMPE NACH PARIS VERREISEN WÜRDE.

Paris war stets die Wunschdestination von Nicole gewesen – einmal «Neujahr» im «Maxim’s». Oder in der Oper. Und … wieder ein kleines Beben der Tränenkanäle.

«Du hättest zumindest mit ihm reden sollen», sagte das zweite ICH. «Blödsinn!», knurrte Nicole zu sich selber. Die Sachlage war eindeutig gewesen. UND DIESE GOTTVERDAMMTE BLUM EINE MIESE SCHNALLE!

Vor einer Bar schenkten zwei weibliche Kläuse Glühwein aus. Nicole fror. Nach dem vierten Becher war ihr etwas wärmer.

Beim «Weissen Rauchfangkehrer» gab man ihr den letzten Tisch. Und eine gute Flasche Wein. Nicole war nicht unbedingt das, was man eine Kennerin nennt. Sie trank selten Alkohol – aber wie hatte schon Busch gesagt: «Wer Sorgen hat, hat auch Likör.» Na also.

«Noch a Flascherl?», lächelte der Kellner.

NOCH A FLASCHERL!

In der Kärtnerstrasse setzte sich Nicole auf eine der eiskalten Eisenbänke. Eiskalt waren auch die Lichterketten mit dem grellweissen Swarovski-Glanz. Und eiskalt waren ihre Hände, als sie das Natel endlich wieder auf «on» schaltete. Seit ihrer Abreise in Basel hatte sie alles «off» gestellt: ihr Leben, ihre Gefühle, das Handy. Nun düdelte Letzteres aufgeregt. «Servusch Wien», lallte Nicole ins Apparätchen. Sie hörte eine aufgeregte Frauenstimme. «Nicole, wo sind Sie? Alles sucht nach Ihnen. Ihr Mann ist bei der Polizei.»

«…im frühern Lebn e Reblaus gwesen sei…», grölte Nicole nun das Lied nach, das der Pianist im «Rauchfangkehrer» am Piano gesungen hatte. Dann erkannte sie die Stimme. Und wurde stocknüchtern: «SIE DRECKIGE SCHLAMPENNUDEL!»

Nadine Blums Stimme sprach beruhigend auf sie ein. «Frau Gerber, es ist alles ein Missverständnis. Ich lebe seit vier Jahren mit meiner Freundin zusammen. Paris sollte doch eine Neujahrsüberraschung werden. Wo sind Sie?»

«Wien, Wien, nur du allein...», trällerte Nicole jetzt ziemlich neben den Tönen. Und dann mit einem Kichern: «Ich lebe hier den SISSITRAUM!»

Sie erwachte durch ein lautes Gepolter. In ihrem Kopf hämmerten tausend kleine Zwerglein auf einem Amboss herum. Und «MÄNNÄRBESUCHÄ SIND NÄT ERLAUBT», hörte sie den rothaarigen Drachen speien.

ABER DA STAND ERWIN AUCH SCHON IM ZIMMER, SETZTE SICH AUFS BETT UND WIEDER TANZTEN MILLIARDEN VON STERNEN ZUM HIMMEL!

«Mein kleiner Vulkan», flüsterte er.

Sie schluchzte wieder. «Ich sah die E-Mail und dass die Blum euch Tickets für Paris besorgt hat.»

Erwin lachte laut auf. «DA HÄTTE DIE FREUNDIN MICH SCHÖN ZUR SCHNECKE GEMACHT, WENN ICH MIT NADINE ABGEZOGEN WÄRE. Gottlob hat sie diesen SISSITRAUM hier entdeckt. Ich: ab ins nächste Flugzeug – und da bin ich, um meine kleine Frau nach Paris zu entführen.»

Und: «MACHENS DAASS IHR RAUSKOMMT! DOS IST EN ONSTÄÄÄNDIGES HAUS!», brüllte der rote Besen.

O.k. So müsste natürlich eine anständige Weihnachtsgeschichte enden. Aber Tatsache ist, dass Nicole bis zu den Heiligen Drei Königen in der Pension SISSITRAUM geheult hat. Und ihr Mann mit der Blum nach Paris geflogen ist – mit der Blum u n d deren Freundin!

HAT MAN WORTE?!

Das Leben ist nicht immer eine Weihnachtsgeschichte.

Dienstag, 12. Dezember 2017