Von den grossen Rollen, die man nie bekommt

Illustration: Rebekka Heeb

«…das geht nicht. Du bist ein Eseli!»

ARSCHKARTE GEZOGEN! SCHON IM KINDERGARTEN.

Es war meine erste schauspielerische Erfahrung. Nun ja – abgesehen von «Schneewittchen», wo ich den Seppentoni spielen sollte. Fräulein Zürcher sah mich schon dort eher im burlesken Fach. Und dieser Zwerg war ja so was von schief. Da hatten sich die Grimm-Brüder nicht allzu stark ins Gehirn gebissen.

Beim Krippenspiel nun wollte ich mich aber endgültig für die Charakterrollen starkmachen. Der wundervolle Part des Verkündigungsengels war schon weg. Dora, diese fiese Dreckschleuder mit den Vorstehzähnen und den starken Lispel-Essss hatte der Kindergartentante ein gesticktes Leinentaschentuch mitgebracht. SO ETWAS REICHTE DAMALS, UM VERKÜNDIGUNGSENGEL ZU WERDEN. Das Taschentuch war der absolute Horror: Enten im Kreuzstich!

Blieb also nur noch die Maria übrig. Aber auch da verbauten sich mir die Wege. Fräulein Zürcher kniff mir in die runden dicken Backen: «Maria hatte langes, schönes, blondes Haar – Hanspeterli.» DAMALS WAR ICH HANSPETERLI. Ich wäre lieber Maria gewesen. Aber mir fehlte das richtige Geschlecht. Und mir fehlte die richtige Haarpracht. Erschwerend kam dazu, dass mein Bürstenschnitt dünn und in der Farbe eingetrockneter Kuhfladen war.

DAS WAR NICHT DAS MATERIAL, DAS DER MENSCHHEIT DEN ERLÖSER AUF DIE WELT BRINGEN KONNTE!

Am andern Tag hatte ich blonde Haar. Es war ausgeliehen von meinem Lieblingsonkel Alphonse. Auf dessen Eierkopf, der da und dort eine kleine Delle wie bei einer eingedrückten Cola-Büchse zeigte, auf seiner «Pflötze» also wucherte ein Haarbüschel von undefinierbarer Farbe. Sein Kopf sah aus wie eine Zwiebel, die man unbedingt rupfen sollte.

Doch immer an den lustigen Basler Fanachtstagen kam die Haarpracht von Onkel Alphonse voll zur Blüte. Alphonse blies nämlich die Posaune. Dies bei den Schnäggejättern. Und die wiederum schränzten als heisse Rhygass-Amsle herum.

Für die Perücken der Liebesdirnerinnen (das ist ein Wortspiel – okay?) hatte man Putzwolle golden gefärbt. Es war eine Pracht gewesen. Allerdings nur am ersten Tag – abends hatte es dann wie aus Kübeln geschüttet. Und die fröhlichen Musikanten schütteten mit Bier nach. Jedenfalls hat die strähnige Putzwolle in ihrer arg verpissten Farbe noch immer so nach Bier gestunken, dass man hätte meinen können, der Feldschlösschen-Wagen sei über ihr geplatzt. DAS GERÜCHLEIN HAT DANN MEINEN AUFTRITT IM KINDERGARTEN ETWAS SCHRÄG ÜBERTÖNT:

«Hallo Fräulein Zürcher – vergessen wir für ein paar Minuten mein Geschlecht. Ich bin jetzt blond wie die Maria …», schmalzte ich mich bei der Kinder-Tante mit der fast bodenlangen Perücke an.

Um mich herum wehte diese Aura, die allen Marias angedichtet wird. Meine war allerdings aus Bier. Und deshalb für Fräulein Zürcher undiskutabel. Sie reagierte bereits etwas säuerlich: «Das geht nicht. Du bist ein Eseli.»

MEIN GOTT – NACH DEM VERBLÖDETEN ZWERG EIN ESEL MIT KARTONOHREN! SAH DIESE FRAU NICHT, WO MEINE WAHREN QUALITÄTEN LAGEN?!

Ich stahl zu Hause unser bestes Damasttischtuch. Und legte die Gabe Fräulein Zürcher zu Füssen. Aber die alte Kuh winkte nur ärgerlich ab: «Hol dir die Ohren. Und mach kein Theater, Hanspeter!»

JA, WAS WOLLTEN WIR HIER DENN ANDERES MACHEN ALS THEATER?

Fräulein Zürcher versuchte es nun auf die gütige Art: «Der Esel hat auch einen Sprechpart: ‹SEHT, OH HIRTEN, DIESEN LEUCHTENDEN STERN›.» Mit diesem Schmu wollte sie mich auf die blöden Ohren scharfmachen. Ich zerriss die Kartonrequisiten und warf mich mit den Fäusten trommelnd auf den Boden. Aber schon gellte es giftig: «Hanspeterli – böse Buben müssen in die Ecke stehen!»

DAS WAR MIR ABER SO WAS VON EGAL.

Lieber ein heulender Drama-Part in der Ecke als eine Esel-Rolle mit sechs Worten. Und davon wäre eines eh nur ein kurzes «OH!» gewesen.

Heute werden ja gemobbte Kinder sofort zum Schulpsychologen geschickt. Verständnisvolle Eltern berufen einen Altenrat ein. Und der arme Bub bekommt eine Therapie.

MEINE ALTEN LACHTEN MICH NUR AUS. Und mein Vater boxte mich in die bereits etwas molligen Hüften: «Aber Bubi – höchste Zeit, dass du von Maria zum Mann wirst!»

Das war in den frühen 50er-Jahren. VON MARIA ZUM MANN? Ahnungslos hatte mein Vater bereits damals das Transgender-Problem in die Runde geworfen. Gottlob war da also Onkel Alphonse. Ich kletterte auf seinen Schoss. Und weinte an seinem Dellenkugelkopf. Schliesslich holte er ein Taschentuch hervor. Putzte mir den roten Zinken. Und nahm mich bei der Hand: «Wir gehen jetzt zu Signore Aldrovandi. Der alte Geier weiss immer, was bei haarigen Fällen zu tun ist.»

Herr Aldrovandi war der Figaro von Onkel Alphonses wildem Zwiebelhaarbüschel. Ich durfte mich auf ein hölzernes Pferd setzen. Und er besah sich meinen Bürstenschnitt. «Igg magge dir ganz schön», nickte er aufmunternd. Gab mir ein «Micky Maus» zu lesen. Schnippelte. Schäumte. Und föhnte drauflos. Als ich aufsah, war etwa ein Drittel meines Bürstenhaars ausgefallen. Der überlebende Rest aber war weiss wie Schnee: «Weiss ist augg bello für dickes Bub.»

Ich schickte mich in mein Los. Pfiff auf die Rolle der Gottesmutter. Und schnallte am Tag des Krippenspiels die Karton-Ohren an. Dann boxte ich mich ganz nach vorne an die Rampe. Und legte dramatisch meinen Satz hin: «SEHT – OH HIRTEN – DIESEN LEUCHTENDEN STERN!»

Später hörte ich, wie jemand aus dem Publikum flüsterte: «…,und wer ist denn diese fette Albino-Ratte, die das ‹OH!› so lange ausgedehnt hat?»

BANAUSEN!

Erst viele Jahre später, als ich mit einem psychologisch wertvollen Zeugnis die Rekrutenschule verweigerte, hat ein Psychiater darin alles schriftlich ausgedeutet: «Hanspeter wurde schon als Kind in eine Figur gedrängt, die er nie sein wollte…»

NA ALSO.

Dienstag, 28. November 2017