Angefangen hatte es vor zwei Jahren.
Louise hatte im Restaurant ihr Handy gezückt. Und den Teller – Nüsslisalat mit Ei – fotografiert.
URS SCHAUTE GENIERT UM SICH:
«Lass den Quatsch. Das ist ja oberpeinlich!»
LOUISE LÄCHELTE GEHEIMNISVOLL: «Lass mich nur machen!».
Sie zog das Handy dann noch beim Vegi-Schnittchen. Und beim Tiramisù.
URS WÄRE VOR SCHAM GERNE UNTER DEN TISCH GEKROCHEN.
Einige Leute schauten schon neugierig zu ihnen.
Da zog ein älterer Herr – Typ «Frühpensionierter» – ebenfalls sein Telefönchen.
Der Mann drückte bei «Bouillon mit Ei» ab.
Als Urs schliesslich die Rechnung verlangte, blaffte Louise den Kellner an: «Im Menu steht, das ‹Vegi-Schnittchen› sei aus Tofu und grünen Erbsen zusammengesetzt. WO WAREN DA DIE GRÜNEN ERBSEN? DER GEMÜSEANTEIL WAR JA ZÜNDROT!»
«Die Erbsen sind der Küche ausgegangen – sie wurden durch Peperoniwürfel ersetzt!», erklärte der Kellner.
«ACH JA? UND WESHALB SAGEN SIE DAS NICHT VORHER ? – ICH KÖNNTE JA EINE PEPERONIALLERGIE HABEN?»
Urs räusperte sich: «Komm. Mach kein Theater, Louise – wir gehen!»
Er drückte dem Kellner noch ein Scheinchen zwischen die Finger. Und flüsterte entschuldigend: «Sie hat gestern ihren Hamster Willi an die Katze der Nachbarn verloren – der Verlust wühlt in ihr ...»
«Mein herzlichstes Beileid» – flüsterte der Kellner zurück.
Urs wusste nicht, ob sich das auf Willi oder das Leiden eines Ehemanns bezog.
Der junge Mann zwinkerte mit den Augen: «Ich heisse übrigens Ralf. Und habe eine Meersau – den Lumpi.»
Zu Hause setzte sich Louise an den Computer. Sie runzelte die Stirn. Und murmelte vor sich hin. Es machte «dling». Dann bellte sie zu ihrem Mann: «Da Urs – es ist jetzt drin!»
«WAS DRIN?»
«Meine Besprechung über den ‹Schwanen›. Ich habe drei Punkte gegeben. UND DIESEN SERVICE-SCHNÖSEL HABE ICH IM KOMMENTAR ZUR SCHNECKE GEMACHT!»
Urs schaute Louise irritiert an:
«Aber der war doch nett. Und das Essen war wie immer!»
«NICHTS IST MEHR WIE IMMER, URS!...», donnerte Louise, «...wir Konsumenten haben jetzt das Instrument der Benotung in der Hand. Andersrum: Wir sind die Gastronomiekritiker von heute – nicht irgendwelche bestochene Wachteleifresser eines abgehobenen Gourmetführers. NEIN URS – WIR: DIE SCHWEIGENDE, ESSENDE MASSE ERHEBT SICH. UND SAGT, WAS SACHE IST...»
Urs stierte auf den Laptop seiner Frau: «FAST GESTORBEN!» – hiess der Titel des Beizenkommentars, der den Kellner zerriss. «Louise A. aus B.» rügte dessen Inkompetenz. Und kritisierte auch die Specklamellen am Salat: «Flutschig wie liegengebliebener Fisch...»
Louise A. aus B. benotet die Angelegenheit mit der Note 3,2.
Am folgenden Tag drückte Urs dem Kellner Ralf wieder ein Scheinchen zwischen die Finger. Der war auf den letzten des Monats gefeuert.
LOUISE HATTE ES SICH NUN ZUM HOBBY GEMACHT, MIT IHREM HANDY DIE RESTAURANTS DER UMGEBUNG AUFZUSUCHEN. VOR DEN TELLERN ABZUDRÜCKEN. UND ZU KOMMENTIEREN.
Urs begleitete sie jeweils. Und merkte, dass diese Benoterei wie eine Seuche um sich griff.
So wie früher beim Eiskunstlauf die Wertungsrichter ihre Tafeln zogen, gaben heute Journalisten über jeden Fussballfuss die Note ab.
POLITIKER WURDEN ÖFFENTLICH BENOTET.
Und selbst die Tatort-Sendung konnte man zwischen 1 und 10 Punkten bewerten.
EIN JEDER WURDE ZUM SELBSTERNANNTEN WERTUNGSRICHTER NACH PUNKTEN.
Es war exakt zwei Jahre nach der ersten Louise-Wertung auf dem Internet-Gourmetportal «WIE HAT’S GESCHMECKT?» , als Urs vor dem Cordon bleu, das Louise bereits drei Mal abgeknipst hatte, aufstand: «So Louise. Das war’s. Unsere Ehe war ein Soufflé, das nicht aufgegangen ist – oder um es klar nach Noten zu sagen: MIR IST SCHLECHT. DEIN GEDECK WAR SCHON IMMER UNGENÜGEND. UND DEIN SERVICE KATASTROPHAL: 2,2 Punkte!»
Noch am selben Tag zog er von zu Hause aus. Und beim Kellner Ralf und dessen «Lumpi» ein.
PS: Vielen Dank für die Bestnote 6 zu dieser Geschichte...