Innocent macht auf miese Laune.
KANN ICH JA VERSTEHEN: Seine Knieprothese hat das Ablaufdatum überschritten. Und dies im wahrsten Sinne des Wortes. Eigentlich müsste das künstliche Gelenk aus Edelstahl sowie die abgelaufene Kniescheibe revidiert oder erneuert werden. DENN DER MENSCH IST WIE EIN GEBRAUCHTWAGEN: JE MEHR KILOMETER AUF DEM TACHO, UMSO HÄUFIGER DIE REPARATUREN.
Jetzt müffelt er: «Ich will einen Sessel. Und Ravioli.»
Na dann. Wir sind in der eleganten Via Condotti in Rom. Das Strässchen ist so unscheinbar wie seine Preisschildchen. Aber beide – Gasse und Preise – haben es in sich. Der direkte Weg zur Spanischen Treppe hat ihren Preis.
«Wir könnten ins Caffè Greco gehen.» Das «Greco» war das Lieblingscafé der gutherzigen Mutter. Sie brachte den schwarzen Kellnern – die zwischen den roten Plüschsofas und den Rundtischchen im Frack herumwatscheln und wie plattfüssige Pinguine aussehen –, die Mamma also brachte den Pinguinen stets Schokolade aus der Schweiz mit. Deshalb kannten sie alle: «Aaah …ben tornata, Signora Carlotta.» Alle hatten stets einen der raren Tische für sie frei.
Doch nichts da mit dem Pinguin-Reigen: «RAVIOLI», knurrt Innocent stur.
MEIN GOTT – RAVIOLI SIND SO ETWAS VON NICHT AUTHENTISCH HIER. DIE RÖMER ESSEN K E I N E TEIGTASCHEN. GEFÜLLTE PASTA WIE SCHLUTZKRAPFEN (Südtirol) ODER AGNELOTTI (Emilia) SIND FÜR DEN NORDEN BESTIMMT. ALSO MÜSSEN WIR IN EINE TYPISCHE TOURISTENBEIZ.
An der Ecke steht ein uraltes Ristorante, das wir von früher kennen. Es hat kleine Salons, ähnlich plüschig wie im Caffè Greco. Aber die Kellner sind «nature». Und nicht im Frack.
MIT «NATURE» MEINE ICH: SCHWARZE HOSE, WEISSES HEMD, SCHWARZER SCHLIPS, WEISSE SERVIETTE ÜBER DEM ARM – UND UNGEPUTZTE SCHUHE.
Innocent zeigt jetzt auf die Eingangstür zum noblen «Ranieri». Und ich weiche zurück wie vor dem Schlangennest: «Da können wir nicht rein – erinnerst du dich nicht mehr? Vor 40 Jahren?» Natürlich erinnert er sich. Es war eine der peinlichsten Situationen in seinem (damals noch jungen) Leben.
Innocent wollte der kleinen Trämlerstochter die grosse Welt zeigen. Er jagte mich von einer Sternebeiz zur andern. LEHRTE MICH, DASS ES «MAUVAIS GOÛT» BEDEUTET, MIT KELLNERN ZU SCHÄKERN. Und zog jedes Mal schmerzlich berührt die Augen zusammen, wenn ich mehr als (umgerechnet) dreissig Centimes Trinkgeld gab.
Immerhin: Ich lernte schnell, fühlte mich in den Luxus-Pinten wohl. Und schrieb begeisterte Briefe nach Hause: «Vergesst den Wurstsalat im Hopfenkranz – kommt hierher. Und rollt Alfredos Dünnnudel auf die Goldgabel.»
Mein Vater nannte mich einen «üblen Kapitalistenwichser» und meine Mutter schaltete mit Innocent ein Ferngespräch: «Schau, dass er die Spaghetti nicht einzeln reinpfeift und die Tapeten beschädigt.»
Als Erinnerung an den Besuch im Nobelristorante liess ich jeweils einen Aschenbecher vom «Danieli», bei «Alfredo» die Goldgabel oder auch schon mal einen silbernen Salzstreuer mitgehen. Es war ein harmloses Hobby. Aber Innocent machte eine Riesenstory daraus: «Wenn du das bei deinem Onkel Alphonse im Trämlerhaushalt machst, ist das deine Sache. ABER NICHT WENN I C H DABEI BIN. KAPIERT?!»
Er war stinksauer, weil ich mich auf dem Markusplatz in Venedig blitzschnell aus dem Caffè Florian davongemacht hatte. Ich watschelte etwas breitbeinig vom Tisch. Schuld war die wunderschöne Halbliterkaraffe (mit geschliffenem Namenszug «Florian») die ich in den Hosenschlitz gesteckt hatte. Und Innocent wollte eben fragen, ob ich Gelenkschmerzen hätte, als der Kellner rüde meinen Arm packte und laut brüllte: «Heee guy, give the bottle back!» Er rüttelte mich so stark, dass die Flasche unten rausrutschte und in tausend Scherben zersplitterte.
GAB DAS EIN THEATER! DIE TOURISTEN BLIEBEN STEHEN. DER KELLNER VERLANGTE 100 DOLLAR FÜR DAS TEURE FLÄSCHLEIN (dabei war es eine Antik-Imitation der damals noch kommunistischen Glasbläserei «Mankel» aus Prag und keine fünf Franken wert).
Und dann waren wir also im «Ranieri».
Stinkvornehm. Und nirgend anderswo hatte es so viele Kellner gegeben, die ihre Augen überall hatten.
«DA KANNST DU NICHTS MITLAUFEN LASSEN. SOUVENIR HIN ODER HER. DIE PASSEN AUF WIE DOBERMÄNNER.»
Innocent grinste schadenfroh. Und das hätte er nicht tun sollen. Ich ging mit meinem Handtäschchen – die Männertaschen waren eben in Mode und in jedem Römer Ledergeschäft der grosse Hit –, ich ging also auf die Toilette. Und in der Kabine gab es tatsächlich eine Rolle Toilettenpapier mit dem königlichen Wappen der «Ranieri» auf jedem Blatt. MUSS ICH NOCH LANGE WEITERERZÄHLEN?
Ich klaubte die Rolle vom Halter. Verstaute sie im Täschchen. Und kehrte an den Tisch zurück.
Wir sassen dann beim Kaffee, den sie auf drei Untertellern servierten, als es im Lokal plötzlich so still wurde, wie wenn bei früheren Beerdigungen der Sarg nach unten rumpelte.
«WAS IST LOS?», flüsterte Innocent über die Friandises hinweg. Da streckte mir der Oberkellner mit den weissen Handschuhen naserümpfend eine Rolle Klopapier entgegen. Der Rest davon zog sich wie ein breites, weisses Band durch sämtliche Salons des Restaurants. Die Rolle war mir aus dem Täschlein gekippt und hatte sich selbstständig gemacht.
Auf der Rechnung (total überpfeffert) lasen wir dann neben den 2 Espressi: 1 ROTOLO DI CARTA IGIENICA – 10 000 Lire. Natürlich haben wir uns hier nie mehr sehen lassen. AUCH DIESES MAL NICHT.
Zu Hause briet ich Innocent einen Pfannkuchen mit Erdbeerkonfitüre. Nicht typisch für Rom. Aber er wurde auf einem geklauten Kuchenplättchen des Caffè Greco serviert.
Na bitte!