Wurst-Mutti und der verpasste Ehrendoktortitel

Illustration: Rebekka Heeb

Da stand sie: klein. Rund. Frisch dauergewellt. Vor ihr der gläserne Wurstkessel, der stets tränte. Und in dem die fingerdicken Wienerli immer praller wurden.

HINTER IHR TONNAGEN VON KARTONTELLERN. Weiss, mit gewelltem Rand.

«ICH BIN DIE WURST-MUTTI – UND WER ZUM TEUFEL SEID IHR?», bellte sie uns bei der ersten Begegnung schon von Weitem entgegen.

Evi und ich fuhren mit einem Leiterwagen am Petersgraben vor. Wir wollten unsern Kindertraum erfüllen: einen eigenen Messestand. «Verkäuferlis spielen», hatte uns Mutter abgekanzelt. «Ja, Himmel – ihr seid jetzt bald 30 Jahre alt.» Und: «WIE KANN MAN NUR SO KINDISCH SEIN? DAZU NOCH MIT ALL DIESEM GERÜMPEL HIER. MICH WERDET IHR AUF JEDEN FALL NIE DORT SEHEN.»

Eine Woche später fuhr sie erstmals mit ihrer selbst gemachten Quittenkonfitüre vor. Kochtechnisch war es das Einzige, das sie aus dem Effeff beherrschte. Sie hatte schon immer für die ganze Familie marmeladisiert. Aber niemand wollte ihren übersüssten Schmetter haben. Also stapelte er sich in Tonnen auf den Kellerregalen. Als wir in Notstand kamen und der «alte Gerümpel» bis zum letzten Nymphenburg-Engel verkauft war, erwachte die Geschäftsfrau in ihr: «Ich habe noch Konfitüre im Keller.» DER REST IST GESCHICHTE.

MIT DEM ERLÖS KAUFTE SIE SICH EINE NERZSTOLA UND IHREN ERSTEN FARBFERNSEHER. An Einladungen gab sie künftig dick an. – Sie, vor deren verkohlten Schweinsmedaillons («die russische Art») alle Gäste das Kreuz schlugen. Sie, deren Soufflés wie die UBS-Aktie nie hochkommen wollten und deren «Salm an Zwiebelschweizi» die Fliegen zu Tausenden ins Quartier lockte – sie behauptete nun grossartig in jeder Runde: «DIE MENSCHEN LIEBEN MEINE KÜCHE.»

Nur Politiker sind heute noch weiter vom Volk entfernt als meine liebe Mutter (gotthabsieselig) damals war.

ZURÜCK ZUR HERBSTMESSE. UND DER WURSTMUTTI: Evi und ich waren auf dem Bewilligungsamt für «Messestände» gewesen. Dort waren sie vor uns auf die Knie gefallen. Und hatten gefleht: «Es ist Aktion: Nehmt neun Meter Stand. Wir geben alles zum Preis von drei Metern!»

«Wir wollen kein Supercenter», blaffte Eva. «Wir wollen einen nuggischen, kleinen Messestand, wo ich meine selbst gestrickten Puppen und der andere da seine zusammenramisierten Gartenzwerge verschachern kann.» Ich hatte eine Gartenzwergsammlung, von der ich mich schweren Herzens trennen wollte.

DIE GARTENZWERGE HATTE EVA, DIE FÜR DAS KÜNSTLERISCHE FLAIR DES UNTERNEHMENS VERANTWORTLICH WAR, SCHARLACHROT UMGESPRITZT. Sie sahen danach etwas gespenstisch nach chinesischem Gedankengut aus. Die politische Schockfarbe hat die Künstlerin aber locker mit ziemlich verlausten Hasenpelzchen (schwarz eingefärbt) aufgerüscht. Und die «rote Garde», wie wir die Gnömchen nannten, wurden schon am ersten Tag en bloc als Blickfang an eine kommunistische Buchhandlung verkauft.

«WIR SIND DIE NEUEN VOM NEBENSTAND», gab Eva nun die News vom Tag durch. Und da liess die Wurst-Mutti vor Schreck den Senfkübel fallen. «DAS GEHT NICHT – DIESE FLOHSTÜCKE VERTREIBEN MIR DIE KUNDSCHAFT. ICH STEHE SCHON SEIT DEM WELTKRIEG HIER.»

Sie schoss wütende Blicke auf uns, als wäre der Weltkrieg noch immer voll im Gang. «ÜBERDIES MÜSST IHR DIESEN STAND EINKLEIDEN. JA, VERDAMMMICH – WAS DENKEN DIE SICH EIGENTLICH BEI DEN BEHÖRDEN? SEIT 15 JAHREN STEHT HIER DER TISCH LEER. UND JETZT SCHICKEN DIE MIR EULEN UND ZWERGE!»

Es stimmte. Die Messe auf dem Petersplatz war am Serbeln. Erst fünf Tische weiter kam der nächste «bespielte» Tisch: das «Schabziger-Männchen». Und nochmals drei Tische weiter die Appenzeller-Fladen-Frau, die stets in Tracht erschien und so die edle Tradition des Fladens aufrechterhielt.

Wir kamen also in Vollzugszwang. Liessen unsere Zwerge bei der Mutti und dem Senf. Und karrten zum Warenhaus «Knopf» zurück, um dort Ballen mit rotem Samtstoff zu kaufen.

«EIN TINGELTANGEL NEBEN MEINER BRATWURST», jaulte das Mutti. Aber sie war nun bereits etwas versöhnlicher gestimmt, weil wir ihr einen «Heiland am Kreuz» schenkten, den die Omama in ihren letzten Stunden in den Händen gehalten hatte.

Jeden Morgen um acht Uhr sind wir dann als Erste jeweils auf dem schlafenden Petersplatz anmarschiert. Nur «Mutti» war früher. Sie hatte bereits den Grill angeworfen und schnitt die Brotlaibe mit einer kleinen Guillotine in Scheiben.

Herr Stöckli aus Binningen schleppte leichenblasse Würste an, die alle in einer Kühltruhe verstaut wurden. Und bald schon zischten diese auf dem riesigen Grillrost. Sie verbreiteten graugrüne Wolken und kehrten uns den Magen: «Da – nehmt einen Schluck. Das hilft.»

Die Mutti schüttete von einem hochprozentigen «Härdöpfler» in kleine Gläslein: «Damit haben wir auch die schrecklichen Kriegsjahre runtergespült. BEI MIR KOMMEN AUCH HEUTE NOCH DIE PROFESSOREN UND STUDENTEN ZUR WURST. DIE STUDENTEN HABEN ALLE ZEHN PROZENT. DAS SIND WIR DER LAGE HIER MIT DEM RÜCKEN ZUR INTELLEKTUELLENWAND SCHULDIG!»

Tatsächlich haben wir bald einmal bemerkt, wie unsere Wurst-Mutti von den Intellektuellen der Universität umschwärmt wurde. «Sie hat uns während des Kriegs durchgefüttert», flüsterte einer ihrer Kunden zu Eva. Und verschmierte meine Weihnachtskugeln mit seinen Senffingern. «WIR HATTEN JA WEDER GELD NOCH WURSTMARKEN – ABER DIE MUTTI HATTE EIN GUTES HERZ. WÄRE ES IN UNSERM VERMÖGEN GELEGEN, HÄTTEN WIR IHR DEN EHREN-WURST-DOKTOR VERLIEHEN!»

So wurde es doch noch eine wunderbare Messe mit Mutti, Wurst und vielen Gartenzwergen. In der letzten Woche reichte Mutti uns dann alle halbe Stunde einen etwas zu stark angekohlten Klöpfer oder eine aufgeplatzte Bratwurst gratis und franko an der Trennwand vorbei in unsern Stand. Dabei tropfte der Gelbsenf auf die Weihnachtsbaumvögel. ABER WIR LIEBTEN MUTTI DAFÜR!

Es wurde eine grosse Freundschaft. – Auch als Mutti eine Riesenfritteuse direkt neben unseren Seidenrosen einbauen liess – und die Fettschwaden morgens um acht Uhr jedem den Magen kehrten. Mutti wartete schon mit dem «Härdöpfler» auf uns. Den brauchten wir auch: Die seidenen Rosen dufteten alle nach Bratöl.

ES WURDE EINE GROSSE FREUNDSCHAFT. SIE WAR AUF DER BASIS VON SENF UND QUITTENKONFITÜRE AUFGEBAUT.

Als Mutti dann den Senfkübel an einen Grossindustriellen weitergab und sich nach Mallorca verabschiedete, schenkten wir ihr eine Schneekugel mit dem Heiland drin.

DER GROSSINDUSTRIELLE LIESS ALS ERSTES EINEN ABZUG ÜBER DER FRITTEUSE BAUEN UND LAGERTE DIE BLEICHEN WÜRSTE IM VAKUUM.

Mutti und die Rauchschwaden fehlten uns – sie fehlte auch allen diesen Zehn-Prozent-Studenten, die mittlerweile ehrbare Professoren geworden waren. Sie hatten es verpasst, ihr den Wurst-Ehrendoktortitel zu verleihen.

UND DESHALB HABEN WIR ES HIER GEBÜHREND NACHGEHOLT!

Dienstag, 31. Oktober 2017