Theater hat wieder Saison. WUNDERBAR. Aber wenn mans genau nimmt: DAS LEBEN IST DAS BESTE THEATER. ES SPIELT DIE WILDESTEN DRAMEN. UND WER NICHT EINEN MOMENT OPERETTE DRAUS ZIEHT, IST SELBER SCHULD.
Ich bin im Theater aufgewachsen: Vater war für das Lustspiel zuständig. Mutter für die grosse Oper. Grossmutter (die Hogafoga-Seite) zog alle Fäden. Und liess bei den grossen Arien der Gegenseite den eisernen Vorhang runter.
Die Kembserweg-Omi fegte im Parkett den Besentanz. Und gab die «komische Alte». Onkel Alphonse aber haute auf die Pauke. «JEDERMANN» war ihm scheissegal. «FLACHMANN» war wichtig.
JA WAS WILL EIN KIND DA NOCH MEHR?
Immer auf die Saison hin trugen die Frauen der Familie verschiedene Stoffe zu Frau Marti. Hortensia Marti war Heimschneiderin beim Allschwilerplatz. Sie kopierte schamlos und kupferte die Schnitte den Mustern von Frau Chanel und Herrn Dior ab. Die Frauen unserer Familie hielten Hortensias Tretnähmaschine mindestens für einen Monat auf Trab: Es musste ein Kleid fürs Schauspiel her. Dann eines (meistens bodenlang) für Oper und Ballett. Und ein sogenanntes Cocktail-Deuxpièces (Glanzstoff) für die Operette.
Operette war sehr gefragt. Damals freute sich die ganze Familie noch auf die Herren Knapp und Ackermann. Die beiden mischten mit ihren anzüglichen Witzen in «Schwarzwaldmädel» das Publikum auf.
ES GAB KEINE EINGESPIELTEN LACHER. DIE BRÜLLER WAREN NATURE. UND LIVE. DIE MENSCHEN LACHTEN EINFACH WILD DRAUFLOS. PROBLEME GAB ES DAHEIM WIEDER GENUG. DIE OPERETTE WAR DER PSYCHOAUFHELLER DER DAMALIGEN ZEIT. OHNE REZEPTZWANG.
Mein erstes Theatererlebnis hiess «Peterchens Mondfahrt». Trudi Gerster spielte einen ängstlichen Maikäfer, der ein Bein verloren hatte.
Ich war nicht der Maikäfer-Typ – ABER DIE LIEBE ZU TRUDI GERSTER, IHREM KÄFERDIALEKT UND ALL DIESEN ROLLEN, DIE SIE IN IHREN GESCHICHTEN SPIELTE, HIELT EIN LEBEN LANG. UND AUCH DIE LIEBE ZUM THEATER.
Es war Ehrensache, dass die Familie zwei Logen abonnierte. Die Logen lagen im ersten Rang des alten Hauses. Sie waren ganz auf der Seite – man sah stets nur einen Drittel der Bühne. Und weil die hinteren Logenplätze nicht verkauft werden konnten, durfte der Bub schon als Achtjähriger in jede Aufführung gratis mit. So sass der Kleine eingeklemmt zwischen Vaters spitzem Knie und Mutters kratzenden Nylons an der Balustrade. Das Theater lehrte das Kind schon früh, was es heisst, sich zwischen zwei Stühle zu setzen.
RINGSUM WAREN ROTER PLÜSCH UND GLIMMRIGES GOLD. POSAUNENENGEL BLIESEN ÜBER DEM VORHANG. UND DA GAB ES DIESEN RIESIGEN KRISTALLLEUCHTER, VOR DEM DIE KEMBSERWEG-OMI JEDES MAL EHRFÜRCHTIG EINEN KNICKS MACHTE: «WER PUTZT DAS ALLES?»
Aber das A und O waren die Frauen in ihren schönen Outfits: Sie hatten sich groblöchrig gehäkelte Stolen in Mohair um die Schultern gelegt (die flaumigen Wolldinger haarten wie alte Katzen). Über den turmhohen Farah-Diba-Frisuren mit den falschen Haarteilen schwebten wie Nebelschwaden schwere Parfums.
UND MEIN UNGEHOBELTER VATER MECKERTE JEDES MAL IM FOYER LAUT DRAUFLOS: «HIER STINKTS WIE IM PUFF, LOTTI!» Darauf die Mutter: «Du musst es ja wissen, Hans.»
Ich hätte auch gerne ein schönes Kleid und Nebelschwaden mit Parfum gehabt.
«MACH KEIN THEATER!», schimpfte die Omama, wenn ich vom Kölnisch Wasser an mich schüttete. Und die kleinen, fetten Hamsterbacken mit den Einlage-Papierchen von Frank-Aroma scharlachrot schminkte: «…DEIN DRAMA KOMMT NOCH FRÜH GENUG.»
Mir konnte es gar nicht früh genug kommen. Und da spielte mir das Schicksal mit «Salome» und Inge Borkh die Karten in die Hände.
Mein Vater stand auf die Borkh wie eine Eins. Für sie liess er Kletterpartien, SP-Quartiersitzungen und sogar seinen besten Freund, den «feschen Hansi» sausen. WENN DIE BORKH DIE SALOME SANG UND DABEI DEN SCHLEIERTANZ VORFÜHRTE, ZITTERTE ER IN HEISSER ERREGUNG WIE OMIS GÖTTERSPEISE AUF DER PLATTE.
Nur – das Kind durfte die «Borkh» nicht sehen. Ihr Schleiertanz hatte nämlich Proteststürme ausgelöst. Was meinen Vater erzittern liess, liess die Kritik und das protestantische Bürgertum erbeben: «DAS GEHT EINFACH NICHT – DAS IST VERSCHLEIERTE PORNOGRAFIE MIT GESANG!»
Ich war weniger an der Pornografie als vielmehr am Schleier interessiert, von dem mein Vater immer wieder vorgeschwärmt hatte. Beim Mittagessen nahm er das Handtuch, wedelte wild damit herum: «…und jetzt müsst ihr euch vorstellen: sieben Schleier. Alle sechs fallen. Der siebte ist durchsichtig und schleiert um diese wunderbare Frau herum… man sieht alles… einfach ALLES … und da muss sich keiner wundern, dass da Jochanaan den Kopf verliert.»
«HANS – JETZT IST ABER GENUG: KEINE SCHWEINEREIEN BEIM MITTAGESSEN – ET PAS DEVANT LES ENFANTS!»
Mutter war stinkig auf Frau Borkh. Natürlich war ich scharf auf den Schleiertanz! Und an jenem Abend, als Frau Borkh wieder tanzte und mein Vater in der Vorstellung sass, schüttete ich sämtliche Parfums meiner lieben Mutter an und über mich. So stahl ich mich aus dem Haus. Beim Hintereingang des Theaters schlüpfte ich am Portier vorbei. Und kam endlich hinter die Bühne.
Frau Borkh trällerte bereits verschleiert im Scheinwerferlicht, als Herr Model, der Inspizient jener Jahre, herbeigerannt kam: «WAS STINKT HIER WIE EIN PUFF?»
Meine Mutter hätte gesagt: «Sie müssen es ja wissen, Heer Model.»
Als das kleine Männchen mich aber am Boden sitzen sah, wie ich jeden Schleierwegwurf der Frau Borkh mit dem Küchentuch imitierte, da wurde ich abserviert. Es gab rauschenden Beifall – nicht für mich. Sondern für Frau Borkh. Und als Salome von der Szene wegging, schob Model mich ihr grinsend entgegen: «Inge – dein jüngster Verehrer.»
Sie gab mir einen flüchtigen Kuss. Wollte etwas sagen. Musste dann aber sofort wieder auf die Szene, um Herodes davon zu überzeugen, dass er ihr das Haupt des Johannes in der Silberschüssel al dente serviere.
GUT EIN HALBES JAHRHUNDERT SPÄTER HABE ICH INGE BORKH ZUFÄLLIG IN MÜNCHEN GETROFFEN.
Sie sass im Operncafé. Und ich sprach die alte Lady an: «Frau Borkh – Ihre Basler Salome ist für mich ein Erlebnis gewesen. Ich habe Sie als achtjähriger Bub…»
Sie sperrte die Augen weit auf: «UM HIMMELS WILLEN – S I E WAREN DIESES SCHRECKLICHE KIND?! SIE HABEN GESTUNKEN WIE EIN GANZES PUFF!»
Ich offerierte ihr den Kaffee.
Und verkniff mir die Bemerkung: «Sie müssen es ja wissen…»