Der Alte

Elke schüttelte den Kopf. War das noch ihr Vater?

Der alte Mann hatte eben den Kellner so laut zusammengestaucht, dass an allen Plätzen die Unterhaltung augenblicklich verstummte.

«…dem habe ichs aber gehustet!», knurrte Wolfgang nun mit einem zufriedenen Blick. «MAN MUSS SICH NICHT ALLES GEFALLEN LASSEN – NUR WEIL MAN BEREITS MIT EINEM BEIN IN DER GRUBE STEHT!»

Es war eine Bagatelle gewesen; der Kellner hatte den Espresso vergessen. Und als Wolfgang «WO IST MEIN ESPRESSO!?» bellte, hatte der junge Portugiese nur gelächelt «Ja, ja – Opi. Ist kommen bald…!»

ABER HALLO. DA GING DANN DIE POST BEIM OPI AB. MIT 120 000 PHONES! UND EINEM KOPF, SO ROT WIE BÜCHSEN-PELATI...

«Papa – weshalb bist du so?», fragte Elke nun. «Du warst doch immer so sanft, so lieb…»

«VIEL ZU LIEB!», unterbrach der Alte schroff.

«Ach Elke, betagte Leute werden nun mal mürrisch…», hatte Sue ihre Freundin sie kürzlich getröstet, «sie haben viel mit sich selber zu tun…»

Elke liess das nicht gelten: «Er hat alles, was er braucht. Zwei Mal wöchentlich hole ich ihn ab. Wir gehen essen. Und er ist immer nur ein mürrisches Ausrufezeichen…»

Sue tätschelte Elkes Hand: «Liebes, er kapiert nicht, was um ihn herum passiert…überall Menschen mit Stöpseln in den Ohren und einem Handy vor der Birne...» «Ich habe ihm eines gekauft – damit er anruft, wenn etwas ist. Aber er hat es noch nie benutzt!»

«…weil er nicht mehr schnallt, wie es funktioniert», lachte nun Sue. «Alte Menschen kapieren auch die Nachrichtensprecher nicht mehr. Sie behaupten, die würden schlecht reden. Tatsache aber ist, dass die Ohren nicht mehr mitmachen…»

Elke verwarf die Nachrichtensprecher mit einer energischen Handbewegung: «Unsinn. Er hat einen Hörapparat. Und den steckt er nie an…»

«…er hat Rheumaschmerzen… die Zähne wackeln… und wenn er erwacht, streckt ihm niemand die Hand hinüber, weil seine Irma seit sechs Jahren Asche ist. SOLL DA EINER HAPPY UND FRÖHLICH SEIN?!»

Sue hatte gut reden: Die Freundin musste sich lediglich um ihren Hund kümmern… HUNDE SCHNAUZTEN KEINE KELLNER AN!

Elke betrachtete den alten Mann vis-à-vis. Er war in den Anzug hineingeschrumpft – ein Skelett-Männchen mit viel zu grossem Burberry-Kittel.

«Papa – wärest du glücklicher in einer gemütlichen Altenpension?»

«DANN BRINGE ICH MICH UM!»

Na also – dieses Thema war auch vom Tisch.

Sie nahm nun die Hand ihres Vaters – die beiden goldenen Eheringe klapperten am dünnen Finger. Wenn Elke als Kind ihren Vater im Bürozimmer aufsuchte, hatte er sich jeweils seinen Ring abgestreift. Und sie durfte damit spielen.

«Meine Prinzessin mit dem goldenen Reifen!», hatte er sie jeweils an sich gedrückt.

ELKE HATTE JETZT TRÄNEN IN DEN AUGEN: «Was kann ich machen, damit du glücklich bist?»

Der Alte schwieg.

Dann schaute er auf die leicht vergilbten Gardinen. Und flüsterte: «DAS ALTER IST ECHT SCHEISSE – ELKE! Sie reden immer von den guten Seiten, der Gelassenheit – aber Tatsache ist, dass du nicht mehr gut gehen, nicht mehr gut hören und nicht mehr gut schlafen kannst. Da hilft dir Gelassenheit einen feuchten Dreck!

DAS EINZIGE, DAS HILFT, IST DAMPF ABZULASSEN…!»

Er grinste. Und hatte plötzlich wieder dieses Augenfunkeln von einst: «Weisst Du, was deine Mutter sagte, wenn ich wieder Mal herumnervte? – ‹Du hast den Rappel, Wolfgang – geh in den Garten. Und lass es raus!›»

Dann schwieg er wieder. Das Lächeln erlosch, wie eine Herdplatte: «Deine Mutter fehlt mir, Elke, ALLES FEHLT MIR!».

Sie drückte die schmale Hand: «Aber du weisst, dass wir dich alle sehr lieben, Papa… und…»

«SERVICE!» – rief Wolfgang nun nach dem Portugiesen. Der eilte ängstlich herbei. Und Wolfgang schaute ihn streng an: «Finden Sie, ich bin ein altes Arschloch…?»

«Aber mein Herr…», stammelte der Kellner. Der Alte lachte nun laut heraus und steckte dem Mann eine Fünfzigernote zu: «Sie haben ganz recht –ich bin eins… geniessen Sie Ihre Jugend!»

Montag, 9. Oktober 2017