Hilde schüttelte den Kopf: «Verrücktes Huhn!»
Langsam fuhr sie an ihrer Nachbarin vorbei. Winkte. ABER LARA SAH HILDE NICHT.
Die Joggerin stierte auf ihr Telefon. Kapseln steckten in den Ohren.
PULS, HERZKLOPFEN, BLUTDRUCK – ALLE WERTE BLINKTEN AUF DEM HANDY AUF.
Es war einer der letzten sonnigen Herbsttage. Das Meer tobte wild. Die Möwen liessen sich mit hysterischem Lachen vom Wind zum Himmel tragen. Und bereits zeigten Rosmarinbüsche diese zart graublauen Blüten, welche zur Weihnachtszeit die Insel bedeckten.
Hilde gab Gas. Und Lara stierte noch immer auf ihr Handy mit dem klopfenden Herzen drauf. Kein Blick für das, was die Menschen hier «unser Paradies» nannten. Wie konnte man nur so verbohrt durch diesen herrlichen Morgen joggen – und dabei am Leben vorbeirennen.
Als Hilde mit Walter vor 40 Jahren erstmals auf die kleine Insel kam, war sie von deren wilder Schönheit ergriffen gewesen. Sie hatte sich auf einen Stein gesetzt. Aufs Meer geschaut. Und geweint: «Hier möchte ich leben, Walti...»
Sie machten Kassensturz. Verkauften ihr Haus am Zürichsee. Beschlossen, sparsam zu leben – und sich den Insel-Traum im Zitronenland zu erfüllen.
38 JAHRE LEBTEN SIE NUN HIER. Sie pflanzten Gemüse an – und ernteten Tonnen von Quitten. Wie schon in Männedorf wucherten auch hier diese steinharten Früchte eifrig drauflos. Hilde rüstete sich die Hände rissig.
Einmal hatte sie Lara ein Stück Quittenkuchen rübergebracht. Lara lebte alleine im Nachbarhaus. Es gab im Südteil der Insel nicht mehr viele Bewohner – nur Tonnen von Touristen, welche viel zu schnell auf der steilen Küstenstrasse rumkurvten.
Als Lara das Kuchenstück sah, schlug sie entsetzt das Kreuz, als balanciere ihre Nachbarin den Leibhaftigen auf dem Teller: «DA HATS DOCH ZUCKER DRIN – SO ETWAS ESSE ICH NICHT!»
Bei einem Glas Ingwertee hatte sie dann ihre Prinzipien runtergebetet: «Keinen Zucker... keinen Alkohol... und immer viel Bewegung, Hildegard! Mein Handy gibt mir jeden Morgen genau durch, wie viele Kalorien ich beim Joggen gerade verbrauche...»
«DIE SPINNT DOCH – ABER GANZ GEWALTIG!», berichtete Hilde abends ihrem Gatten. Empört schenkte sie nochmals vom Chianti nach: «Sie will jung bleiben – dabei ist sie 50. Und hat vom Leben ausser ihrem Kalorienzähler noch gar nichts gesehen...»
VIER TAGE SPÄTER PASSIERTE DAS UNGLÜCK: Ein Autofahrer hatte nur Augen für sein Handyfoto-Motiv. Und Lara nur für ihren Kalorienzähler...
Als Hilde die Nachbarin im kleinen Bezirksspital von Orbetello besuchte, guckte diese stumm aus dem Fenster – dann lächelte sie: «Lieb, dass du kommst... es kommt sonst keiner...»
Hilde setzte sich aufs Bett. Und Lara weinte: «Ich fühle mich schrecklich alleine... es ist, als würde ich in einer Sackgasse an Ort laufen...» Hilde streichelte Laras Arm: «Komm schon – du hast Glück gehabt. Du könntest tot sein und...»
«VIELLEICHT WÄRE TOT BESSER...» – Lara schaute die Nachbarin nun an. «Ich wollte, ja ich musste immer schön sein – das ist das Los der heutigen italienischen Frauen. Mamma-Typen sind out. Frauen am Herd ebenfalls – wir müssen so attraktiv sein, wie es uns seit Jahren von den Medien eingetrichtert wird!»
«Nanana!» – Hilde schaute etwas schuldbewusst auf ihren Lasagne-Bauch. Sie war alles andere als ein Fernsehmodell...
Lara seufzte nun: «Es wäre schön, so zu sein, wie du, Hildegard – du liebst die Menschen. Und du liebst die Welt – auch wenn sie schlecht ist. Und nicht wie in der Samstagabend-Schau...»
Hilde lachte laut auf: «Unsinn – ich bin so, wie ich bin. Und nehme mich nicht so wichtig...» Sie stand auf: «Ich komme morgen wieder...»
Lara nickte. Und Hilde drückte ihr einen Kuss auf das Haar. Als sie unter der Türe war, rief Lara ihr nach: «Könntest du einen Quittenkuchen für mich backen, Hildegard...?»