Ilse blieb stehen. Ihr Herz klopfte wild. «Da habe ich mir zu viel zugemutet...» schimpfte sie mit sich selber. Es war niemand da, mit dem sie sonst hätte schimpfen können. Gottlob gabs eine Bank. Sie spürte, wie ihre Füsse schmerzten. Und sie lächelte leise: wenn Kurt sie so sehen könnte... sie, die um jeden Berg einen Bogen gemacht hatte.
Er hatte Ilse eine riesige Überraschung versprochen, wenn sie ein einziges Mal mit ihm hoch- kommen würde – über die Alp hinaus... zu den steilen Wänden... Sie waren damals schon 20 Jahre verheiratet gewesen. Kinderlos. Aber gute Ehe – na ja: mit all den Hochs und Tiefs, die so eine Zweierkiste eben mit sich bringt.
Sie hatten den Sessellift auf die Alp genommen. Und waren dann marschiert. DIES AN EINEM HITZETAG. Ilse hatte innerlich wie äusserlich gekocht. ENDLICH HATTE KURT AUF EINEN GROSSEN STEIN GEZEIGT. STOLZ. GLÜCKLICH: «DA!»
SIE ABER HATTE KAUM MEHR LUFT IN DER RÖHRE GEHABT. Und sah ein Herz – ziemlich schief in einen Stein gekratzt. Darunter in wackligen Buchstaben: «FÜR ILSE – KURT.»
Sie hatte zornig Luft geholt: «Ich will das jetzt nicht glauben, Kurt. SOLL DAS DIE ÜBERRASCHUNG SEIN?»
Nach seinem Tod hatte sie immer wieder an Kurts steinernen Liebesbeweis gedacht. Und an die kleine Pension am Fusse der Alp – Kurt hatte das gemütliche Gasthaus als «mein Basislager» benutzt. Sie hatte dort jeweils im Stübchen gesessen. Die Stille genossen – eine Ruhe, die für sie als Geschäftsfrau selten war.
An der hölzernen Wand hatte ein Madonnenbild gehangen – eine dieser süssen Schwarten, die Kurt zu einem Grinsen verleitete: «Zuckerguss des Glaubens!» Kurt sammelte Zeitgenössisches. Video-Kunst.
Ilse konnte mit der Madonna mehr anfangen...
Als sie sich entschlossen hatte, den steinernen Liebesbeweis von Kurt noch einmal aufzusuchen, kam sie nach über 20 Jahren wieder in die alte Pension. Das Haus war jetzt etwas heruntergekommen. Eine Nichte der einstigen Besitzerin führte das kleine Hotel – ein fröhliches Mädchen mit einem Freund, dessen Haar zu einem Zöpfchen zusammengefasst war, so dass sein Kopf aussah wie eine Zwiebel, die man gleich zupfen sollte.
Die beiden bemühten sich liebevoll um ihren einzigen Gast: «Es ist eigentlich für junge Leute hier... wir wollen ein bisschen modernisieren ...und das alte Madonnenbild sollten wir restaurieren lassen... Tante Miezi hat stets gesagt, es sei wertvoll... aber wir haben kein Geld für eine teure Restauration... mögen Sie noch einen Schluck von unserm Melissen-Sirup?»
Ilse lächelte jetzt, wenn sie an die jungen Leute dachte: voller Elan. So wie sie und Kurt mal gewesen waren.
Sie schaute bergaufwärts. Wo war wohl der Stein mit Kurts Herz? Ihres würde den Weg dorthin nicht mehr schaffen... «Darf ich?» – eine Frau mit schönen langen Haaren setzte sich auf die Bank. Sie kam Ilse irgendwie bekannt vor.
«Suchen Sie Ihr Herz...?», fragte die junge Frau. Und lächelte Ilse zu: «...Sie haben es doch bereits gefunden. In sich. Von jenem Moment an, als Kurt es für sie in Stein gemeisselt hatte, war es immer da. Ein Leben lang...»
Die Frau klopfte ihr auf die Schulter: «Sie haben mit Ihrem Kurt Glück gehabt...»
Ilses Kopf war leicht nach vorne gefallen. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Sie war alleine. Und sie merkte, dass sie eingenickt war.
BESCHWINGT KEHRTE ILSE IN DIE PENSION ZURÜCK. Dort stiess ihr Blick auf das alte Bild: Natürlich – die Madonna! Die Gesichtszüge der Frau auf der Bank waren diejenigen der Madonna gewesen! Hatte sie es geträumt? War es ein Fantasiemoment...?
Die junge Wirtin stellte Ilse ein Glas mit Melissen-Sirup auf den Tisch: «Ich hoffe, Sie hatten einen guten Tag...» «Ja», antwortete Ilse leise. Und dann mit einem strahlenden Lachen zum Mädchen: «Die Madonna soll neu aufleben – die Restaurationskosten übernehme ich...»