Brezn-Gretel

«Ach, Hans...» Sie steckten im Stau. Kurz vor Zürich. RUND UM ZÜRICH IST IMMER DIE GROSSE SAUEREI-STAUEREI.

«Ach, Hans...» – Trude nahm einen neuen Anlauf. Der kam nicht gut an.

Sie hatten Hans eben auf Herz, Augen und Demenz geprüft und ihm brummend den Führerschein auch mit biblischen 70 Jahren noch zugestanden – deshalb nun mehr als gereizt: «Trude, hier kann ich nicht halten! Du hättest halt zu Hause sollen und...»

Sie schaute ihn leicht pikiert an: «Ich muss gar nicht. Aber ich habe schon wieder Gretels Brosche vergessen. Und sie freut sich seit Jahren drauf...»

Stimmt. Um genau zu sein seit 30 Jahren. Damals hatten Hans und Trude die Brezn-Gretel im Münchner Hofbräuhaus kennengelernt.

Dick war sie schon damals gewesen. Kurzatmig. Sie trug einen grossen Korb mit diesen gesalzenen Bretzeln, welche die Münchner Brezn nennen und – e wie t – aus dem Wortteig rauslassen.

Den grossen Korb hielt sie an den noch grössern Busen, der wie ein aufgegangener Hefeteig aus dem Dirndel-Ausschnitt quoll. Und als Hans sie an den Tisch im Biergarten winkte, strahlte die Brezn-Frau wie ein leckes Atomkraftwerk um sich: «Y bins, die Brezn-Gretel...» «So süss», freute sich Trude. Und zückte ihren japanischen Kleinstfotoapparat: «...darf ich!?»

Hans war diese Fotografiererei seiner Gattin stets peinlich. Deshalb salbte er Gretels Hand mit einem saftigen Trinkgeld. Und die Brezn-Frau kam ins Plaudern: «Seit bold 40 Johr moch y denn Zirkus hier...» Sie sei als junges Mädchen ins Hofbräuhaus gekommen. Da habe es noch kein chinesisches, ungarisches und japanisches Personal gegeben. Nur fesche Münchner Maderl.

Sie kicherte kokett: «Y war so aans...»

Man habe die Frauen nach den Grössen der Busen und der Oberarme angestellt. 14 Mass habe sie jeweils am Tresen stemmen müssen: «Mit der Zeit hooms mei Hoxn net mehr mitgmocht...»

Sie wurde zum Brezn-Korb abberufen – und war seither die Brezn-Gretel. Zweimal hätten Zeitungen schon über sie berichtet – einmal gar mit Bild in Farbe.

«Wir müssen zurück, Hans!»

«DU SPINNST, TRUDE!»

Die Stimme der Gattin wurde nun ungewohnt bestimmt: «Seit 30 Jahren versprechen wir ihr diese Brosche. Und immer vergesse ich sie – GENUG. BEI DER NÄCHSTEN AUSFAHRT GEHST DU RAUS. UND KEHRST!» Es wurde keine schöne Diskussion – aber gemacht, was Trude wollte.

So kamen sie mit fünf Stunden Verspätung in München an. Für «Tannhäuser» wars eh zu spät –also führte der erste Weg zur Brezn-Gretel.

MIT DER SILBERBROSCHE IN DER FORM EINES BREZELS.

Trude hatte den Schmuck als 15-jähriges Mädchen von ihrem Onkel bekommen. Er brachte die Silber-Brezn von einem Oktoberfest mit. Sie hatte die Brosche schon damals scheusslich gefunden. Immer wieder hatte sie Gretel davon erzählt. Und die hatte gestrahlt: «A mai – dös wär schön auf mei Dirndel...»

Jedes Mal hatte Trude den Schmetter vergessen. ABER JETZT – NACH 30 JAHREN – SOLLTE GRETEL ENDLICH ZU IHRER SILBERBREZN KOMMEN.

Sie sassen an einem der Holztische in der Schwemme. Und äugten nach der Brezn-Frau. Schliesslich winkte Trude eine der Gebäckverkäuferinnen herbei – eine spindeldürre Chinesin, die in der Tracht so verloren aussah wie eine Kuh im Konzertsaal.

«Wo ist Gretel?»

«Frau Gretel ist tot!» Die Chinesin schneuzte sich in eine Papierserviette: «War gutes Frau – wie Mutter zu ausländisches Personal!...»

«Und wie...», stammelte Trude.

«Ist zusammengesunken mit Korb...war sofort in Himmel...»

Trude weinte ein bisschen. Dann nahm sie die Brosche. Und steckte sie der chinesischen Brezn-Frau an die weisse Schürze. «Als Erinnerung an Gretel...»

Eine Kapelle spielte den Tusch vom «Prooosit und der Gemütlichkeit».

«Das wars», meinte Hans.

Sie erhoben sich von ihren vollen Biergläsern. Gingen hinaus aufs «Platzl».

Und München war ihnen plötzlich fremd.

Montag, 18. September 2017