Vom spannenden Alter der Spanner und Feldstecher

Illustration: Rebekka Heeb

«Sie haben diese Woche bereits zum dritten Mal Zopf und Butter – wenn du mich fragst: Die haben geerbt. Oder verbraten ihr Schwarzgeld und...»

Ich brüte über einem Artikel «SPANNUNG IM ALTER?» Aber beim Thema Zopf wird mir warm um die Magenwände.

Ich liebe Zopf. Natürlich hats ab 50 plus zu viel Butter drin. WIR KENNEN JA ALLE DIESE VERDAMMTEN CHOLESTERINWERTE. Obschon – jetzt behaupten sie wieder, das sei alles überholt. Eine neue Studie sage, Cholesterin sei so natürlich wie Haarausfall. Es gehöre einfach dazu – besonders ab 50 plus.

UND WIE HIESS DOCH DIESER FILM GLEICH? – «HUNDE WOLLT IHR EWIG LEBEN!» So galoppieren meine Gedanken zwischen Labtop und Innocent hin und her.

Letzterer setzt nun den Feldstecher ab. Und schüttelt die ergraute Birne: «Also ich weiss nicht – drei Mal Zopf bei den Kündigs. Dies hintereinander. Früher hat die alte Kündig nur an Weihnachten, Ostern und zur Abdankung des alten Hans-Jakob Zöpfe gebacken. Und jetzt schleppen sie jeden Tag so ein Brot an. DABEI SIND ES «STÜNDELER». PRASSEN IST DA DAS TICKET ZUR HÖLLE.»

«INNOCENT!»

Seit mein guter Freund die 80-Jahre-Marke überschritten und ein paar weiche Knochen hat, greift er in unserm Adelbodner Stübchen zum Feldstecher. Und spielt Miss Marple. «Schpieegle» – sagen die Einheimischen diesem hauseigenen «WAS TUT SICH DA, WAS TUT SICH DORT-Programm».

Neben Bretzel-Eisen, Melkmaschinen und Weihnachtsbeleuchtungen sind Feldstecher die meist verkauften Objekte des hiesigen Elektrogeschäfts.

HIER STICHT JEDER DEN ANDERN (OPTISCH) AB!

Die Instrumente hängen meistens an einem dünnen Lederband beim Fenstergriff. Während man alte Wolljacken über Generationen austrägt und die gestrickte Skimütze von Köbi schon dessen Grossvater auf dem schütteren Haar aufgesetzt hatte – BEI FELDSTECHERN TAUSCHT MAN DAS MODELL SOFORT AUS, SOBALD EIN NOCH SCHÄRFERES AUF DEN MARKT KOMMT.

Die Berner Unterländer behaupten, der Feldstecher-Moment sei der einzige Weitblick aller Adelbodner. Aber die Unterländer sind eh mehr Spinner als Spanner. Sie werden hier oben nicht für voll genommen.

Innocent ist mittlerweile beim Nachbarhaus. Genauer: bei dessen Schlafzimmerfenster. Er atmet schwer durch – dann: «Das glaube ich jetzt nicht … die alte Allenbach trägt wahrhaftig noch rote Reizwäsche. Ja, wen will die denn noch reizen? Der Köbi ist doch schon seit 15 Jahren kalt.»

«INNOCENT!»

Er hüstelt etwas verlegen: «Ist doch wahr … aber vielleicht hat die lustige Witwe ja doch mit diesem kroatischen Kellner von der ‹Sonne› angebandelt.» Dann abrupt: «Sind wir heute Abend daheim?»

Wir sind in Adelboden immer daheim. Ich liege auf der Couch und ärgere mich über die ewigen Wiederholungen im Fernsehen. Und Innocent hockt hinter dem Stubenfester-Vorhang und zieht sich das spanne(r)nde Privat-Programm aus den andern Stuben rein.

HEUTE ABEND IST ER WOHL UNSICHTBAR GAST IM HAUS DER WITWE ALLENBACH.

Als wir im letzten Jahr den Estrich des Chalets räumten, stiessen wir neben vielen zerlöcherten Schweizer Fahnen und einer Kiste mit Schmalfilm-Szenen, die alle meinen Vater zeigten, wie er in den Felsen klebte – als wir da also Schutt und Erinnerungen in die grosse Mulde warfen, war da plötzlich eine kleine Holzkiste. Und drin: mehrere Feldstecher.

Die Feldstecher waren Teil unserer Adelbodner Alltags-Requisiten. Die Geschichte begann, als Mettlers Käthi meine Mutter darauf aufmerksam machte, dass mein Vater ein Zehenloch in der linken Klettersocke habe.

«Aha», sagte die Mutter dumpf. Und pflückte sich ihren Alten daheim: «Wie kannst du vor diesem alten Klatschmaul dein Gestricktes abstreifen, Hans!?»

Vater schwor hoch und heilig, es sei nie etwas gewesen – aber ja, das Loch sei da.

ALS METTLERS KÄTHI DANN ABER MEINER MUTTER AUCH NOCH VOM KLEINEN BUBEN MIT DEM ENTENSCHRITT BERICHTETE, DER SICH IMMER BEI IHRER ABWESENHEIT VON IHREM CHANEL-5 AUF DIE BIRNE KLATSCHE UND AUCH HIN UND WIEDER DIE LIPPENSTIFTE AUSPROBIERE – ALSO DA STELLTE SICH DOCH DIE FRAGE: «Ja, woher weisst du das?»

Das Käthi schaukelte geniesserisch seine neuen Zähne hin und her. Dann zog es sie mit einem starken Schlürfen fest und grinste. «Der Feldstecher … Ihr seid eines der interessantesten Programme auf dem Kuonisbergli, Lotti!»

Meine Mutter, die mit der Bergenwelt eh nicht viel anfangen konnte, sah einen Silberstreifen am Horizont. Sie liess sich von Glopfenstein sämtliche Feldstecher-Typen vorlegen. Und behauptete, sie sei Ornithologin. Sie wolle das Leben der Vögel beobachten.

Herr Glopfenstein rieb sich geschäftig die Hände. «Der hier ist für nahe Vögel, der für weite Vögel, und der hier zeigt den Vogel ganz hell in der dunklen Nacht.»

«ICH NEHME ALLE!», sagte die Mutter. Und Herr Glopfenstein versicherte ihr, dass alle Ornithologen hier im Ort diese Modelle benutzen würden.

Plötzlich fand Mutter das Leben am Fusse des Kuonisberglis spannender als den Halstuch-Mörder in der Glotze. Stundenlang konnte sie die Häuser mit den Ornithologen-Feldstechern absuchen – und hörte immer erst auf, wenn die Tränensäcke pochten und die Augen so rot waren, wie bei Familie Dracula vor dem Zubiss.

HÄTTE EINER DIE ORNITHOLOGIN JE GEFRAGT,WELCHE ART VON VÖGELN DENN DA HERUMFLIEGEN WÜRDE, HÄTTE MAN SIE ARG IN VERLEGENHEIT GEBRACHT. UND DIE ANTWORT WÄRE VERMUTLICH «PAPAGEIEN» GEWESEN. SIE HATTE ES NÄMLICH NICHT SO MIT VÖGELN.

Und nun hat also Innocent die Adelbodner Familientradition übernommen. ICH KANN IHN KAUM MEHR VOM SESSEL LOSEISEN.

Aber er holt nun doch seinen Stock und wackelt zum Hof der Kündigs. Die vielen Zöpfe lassen ihm keine Ruhe.

Ich greife nun auch zum Feldstecher. Sehe, wie Innocent der Bauernfrau eine Tafel Frigor-Schokolade zusteckt. Und lange mit ihr redet.

Schliesslich zottelt er zurück. Und ruft schon im Hausgang: «Rätsel gelöst – sie backen Tonnen von Zöpfen für den Kirchen-Bazar!»

Morgen erfahren wir, ob Witwe Allenbach die rote Reizwäsche tatsächlich für Kroatien trägt.

(Und «DAS ALTER KANN SEHR SPANNEND SEIN!» – damit beende ich meinen Artikel zum Thema «Spannungen im Alter!»)

Dienstag, 12. September 2017