Gondelfahrt

Die Gondel stoppte.

«ICH HABE ES GEWUSST!» – durchzuckte es Aline. «WESHALB HABE ICH NICHT AUF MEINE INNERE STIMME GEHÖRT?!»

«Das geht gleich weiter», lächelte der ältere Herr vis-à-vis ihr aufmunternd zu. «So etwas passiert immer wieder!»

In Aline stieg Panik auf. Lifte, Sesselbahnen, Flugzeuge – alles Dinge, die mit ihrem Karma auf Kriegsfuss standen.

Mit ihrem Mann war Aline nur im Zug an die Adria gefahren. Und im Hotel hatte sie stets die Treppe benutzt. Dabei hatten sie das Zimmer im 6. Stock.

Karl hatte sie eine «hysterische Kuh!» geschimpft.

Einmal – das war dieser Urlaub in Oberstaufen – da hat er sie einfach gezwungen, mit ihm in eine Zweier-Kabine zu steigen: «Nur so bekommst du deine Phobie in den Griff. Ich bin es satt, dich Treppen raufkeuchen zu hören. Und in überfüllten Nachtzügen nach Rimini zu reisen. Also, klemm deinen Arsch zusammen!»

Karl konnte in seiner Wortwahl sehr grob sein.

Als dann die Gondel über einem Mast abrupt stehen blieb – da schrie sie hysterisch. Sie tobte derart herum, dass die Kabine arg ins Schwanken kam.

«HÖR AUF – DU DUMME KUH!», brüllte Karl. Dann klebte er ihr eine.

Aline brach wimmernd zusammen. Die Kabine fuhr nach einem leisen Ruck weiter.

«Ich musste es tun, Aline», sagte Karl unglücklich, als sie noch immer kreideweiss im Bergrestaurant sass. «DU WÄRST TOTAL DURCHGEDREHT...!»

Als er starb, fühlte sie sich frei. Und keine Sekunde Trauer.

Sie fuhr mit dem Zug nach Sylt, ohne seinen vorwurfsvollen Blick im Gepäck.

Und doch liess ihr die Phobie keine Ruhe. Sie ging an Kurse gegen Flugangst und Klaustrophobie. Man riet ihr fast immer auf ihre innere Stimme zu horchen. Doch die flüsterte stets: «Tu es nicht, Mädchen! Treppensteigen hält dich gesund. Und im Zug gehts im Flug...!»

Olga, ihre engste Freundin (auch Witwe), sah es weniger kompliziert: «Du brauchst wieder einen Mann – Aline. Bei dir spielen einfach die Hormone verrückt. Ich kenne da einen Witwer...»

Der Mann war nett. Hatte aber eine Dachwohnung im 25. Stockwerk des einzigen Hochhauses am Ort. DAS DANN DOCH NICHT!

Als Aline an diesem strahlend sonnigen Ferienmorgen den Hausberg des Kurorts sah, war klar: Heute gehe ich rauf.

ABER VOR DREI TAGEN HATTE ES NOCH GEKÜBELT. UND DER WANDERWEG WAR VERSCHÜTTET.

Einziger Weg nach oben: die Gondel!

«ICH WAGE ES EINFACH!», sagte Aline.

«TU ES NICHT», flüsterte die innere Stimme.

Und nun war da ein Stromausfall. Die Kabine schwankte. UND ALINES SCHREIE GELLTEN BIS INS TAL!

Der nette Mann pfefferte ihr eine Ohrfeige. Schon surrte die Bahn gipfelwärts.

Aline sass dann beim Tee. Und stierte ins Glas. Schliesslich setzte sich der Mann zu ihr: «Ich musste es tun... in solchen Fällen...»

«Ja, ja», sagte Aline müde. Dann lächelte sie: «Würden Sie mit mir zurückfahren? Sie haben freie Hand...»

«Herbert», lächelte der Mann. Und deutete eine Verbeugung an.

Gottlob lebt Herbert in einem bodenebenen Bungalow. Und nicht im 25. Stock.

Morgen fahren beide nach Apulien.

Mit dem Zug.

Montag, 4. September 2017