Bei meinem Marsch von unserm kleinen Holzhüsli ins Dorf von Adelboden schalte ich auf dem grossen Platz meistens eine Verschnaufpause ein.
100 Kilo. Plattfüsse. Ein wie immer viel zu enges T-Shirt – das bremst jeden aus.
Heute ist der Platz leer. Etwas verloren. Um nicht zu sagen fantasielos fade. Gottlob stehen noch ein paar Berge herum. Sonst wäre es das Schotterland der Schotten.
Früher funkelten hier die Lüster des «Palace». Es war der einzige Fünf-Sterne-Kasten am Ort. Mit einem türkischen Türsteher in Uniform. Mit Oberkellner Egon (aus Linz, wo auch sonst allerlei Törtchen herkommen). Und mit einer Wäscherei, wo neben den Kissenanzügen auch der Klatsch anzüglich dampfte. ES GAB ÜBER DIE GÄSTESCHAR VIEL ZU ERZÄHLEN. ENTSPRECHEND HAT DER ALTE KASTEN MEINE OMAMA ANGEZOGEN WIE FRISCHE KUHFLADEN DIE FLIEGEN.
Das «Palace» von Adelboden war in den Jahren, als ich eben aus der Windelkackerei raus war, der Ort, an dem sich die eleganten Basler Familien trafen. Sie wollten dort ihre Brut vermählen – «untereinander», versteht sich. Denn alles andere war «igitt». Und so unpassend, als würde man eine Schwarzwäldertorte mit Sardellen servieren.
Beim «Palace» (und es hätte auch im «Palace» von Montreux sein können – denn die Omama liess nichts aus. Sie verjubelte ihr Vermögen als hätte sie Onassis als Lover), beim «Palace» also muss ich auch heute noch an Kartoffeln denken. Und so stehe ich auf diesem müden Platz. Und denke an den Stock mit dem Seelein …
Kartoffeln wurden zu meiner Kinderzeit mannigfaltig zubereitet: am Freitag in grossen Stücken weich gekocht mit Butter geglänzt und mit Schnittlauch beregnet zum Kabeljau. Am Dienstag: als «Pommes rissolées» zu Spiegeleiern. Am Freitag als Gschwellti zu Käse. Und am Sonntag dann Stock.
Kartoffelstock war die Königin alles Kartoffelspeisen. Er wurde als goldgelber Berg angerichtet. Oben schwitzte eine Butterflocke. Und ein Peterlibouquet kündete Festliches an – ein Festtagsessen also.
Meistens wurde der Stock mit Braten und Sauce serviert. Und eben diese Sauce war das Problem. Onkel Alphonse brachte uns nämlich die Sache mit dem Seelein bei. UND MUTTER WAR DER STURM IM SEE!
«Jetzt reichts aber, Alphonse! Ich versuche diesen Kindern einen guten Benimm mitzugeben. UND DU WIRFST MIR HIER ALLES ÜBER DEN STOCK!»
Alphonse war der stinksteifen Mutterseite eh ein Dorn im Auge. Na gut – er zeigte uns, wie man absichtlich rülpsen kann («Hör mit dem Lamento auf, Lotti – wenn die Kinder mal beim japanischen Kaiser zu Gast sind, müssen sie das drauf haben.»).
Er konnte seine Drittzähne wild wie ein Windrad im Mund herumdrehen. Und er lehrte uns diese wunderbaren Gedichte, in denen eine Frau Wirtin stets die Hauptrolle spielte. Und mit denen wir am Elterntag der Bibelschule noch lange im Quartier von uns reden machten.
ALSO: SO EINER WAR ALPHONSE. MUSS ICH NOCH BETONEN, DASS WIR KINDER IHN HEISS LIEBTEN?!
Alphonse also baggerte im geschöpften Kartoffelstock mit dem Löffel ein Loch. Füllte dieses mit Sauce auf. Vermatschte dann Stock und See. Und zog alles mit genüsslichem Schlürfen rein.
Die Omama ging vom Tisch: «Das muss ich mir nicht ansehen, Lotti.» Sie war eh immer gegen die Einheirat in «diese Familie, wo sie den Kaugummi unter die Tischplatte kleben». Aber Alphonse rief ihr nach: «Das ist höchst nobel, Frau Meyer – mindestens so nobel wie ihr Ypsilon in den Eiern, haha!»
Um uns ein bisschen Schliff zu geben, wurden «die Kinder» jeweils während der Adelbodner Ferien von der Omama ins «Palace» an den Tisch gebeten.
ES WAR TORTUR PUR.
Sie kämmten uns tausend Ermahnungen ein: «Kaut keine Fingernägel! Knickst, wenn ihr grüsst, da hats nur noble Leute! UND VERGESST ALLES, WAS ONKEL ALPHONSE EUCH JE BEIGEBRACHT HAT.»
«Auch die Sache mit dem Stock-See?», fragte Rosie unschuldig. Und die Omama griff zu ihrer Coramin-Tablette!
Im Speisesaal wurden wir vorgeführt wie die Elefanten im Zirkus. Die Omama nickte huldvoll nach allen Seiten. Ich knickste mich in Position, wie ich es in der Ballettschule gelernt hatte. UND: «Stoppe diese kleine Schwuchtel», zischte die Omama zu meiner Mutter. Und dann sassen wir am Damast und warfen die ersten Gläser um.
Frau Österreicher, die Hotelbesitzerin, schleppte uns einen kleinen kugelrunden Mann mit Riesenschnurrbart an den Tisch: «Das ist Karl Heinz von Zacke, darf ich den Herrn Baron zu euch setzen?»
Der Zacke nahm Mutters Hand und schmatzte einen drauf. Da stiess auch Mutter die Gläser um.
Natürlich war die Omama hin und weg – man stelle sich vor: einen zackigen Adel am Tisch.
Schon ging sie mit ihm die Stammbäume der Ahnen durch und verstummte erst, als der Kellner eine Riesenschüssel mit Kartoffelstock herbeibalancierte.
Die Frauen schauten uns beschwörend an. Herr von Zacke aber nahm sich eine zackige Portion – und griff zur Saucière: «Meine Damen, liebe Kinder – ich darf euch jetzt eine alte Familiensitte verraten…»
Schon baggerte er das Loch im Stock. Füllte mit Sauce auf. Und flüsterte: «Det is das Tunkenmeer – darin versenken wir die Erbsen.»
DER WAR JA NOCH BESSER ALS UNSER ALPHONSE!
Herr von Zacke begann uns zu gefallen.
Nur die Omama schaute noch immer bleich auf den vermatschten Kartoffelstocksee. Und meinte schliesslich zu meiner Mutter: «Lotti – wir werden morgen Alphonse eine Karte schreiben müssen.»