Frühstück im Hotel

Erna schaute mit diesem Blick, den die Familie «das gemeine Killergesicht» nannte, auf den dicken Mann.

Seit vier Tagen vergällte dieser Prolet ihr bereits den Hotelaufenthalt an diesem Nobel-Ort an der Côte.

Der Dicke erinnerte Erna an Onkel Karl. Der hatte auch immer goldene Armbänder getragen. Nicht eines. Gleich drei. Und jedes so dick wie ein Kinderarm.

Onkel Karl war mit fünf Frauen verheiratet gewesen. Gleichzeitig. Als es herauskam, kam ein viertes Armband dazu: HANDSCHELLEN!

Seither war für Erna jeder Mann mit Goldarmband ein potenzieller Heiratsschwindler.

AUCH DER HIER – MAN MUSSTE IHN JA NUR ANSCHAUEN! BESTIMMT EIN RUSSE!

Es war schrecklich: Seit mehr als zwanzig Jahren stiegen Erna und Kurt in diesem Nobelkasten ab. Früher kamen da noch anständige Schweizer. Und natürlich die Deutschen. Auch Engländer.

ERNA MOCHTE DIE ENGLÄNDER. SIE HATTEN IMMER SO EINEN VORNEHMEN HAUCH VON KNICKS UND KÖNIGIN AN SICH.

Der Zerfall begann im Zeitlupentempo. Zuerst wuselte es von verschleierten Frauen und Männern mit Augen, so schwarz wie Kohlensäcke. Immerhin – diese «Muschimuschis» (wie Erna sie bei ihren Freundinnen beschrieb) benahmen sich unauffällig. Die Augen der Frauen schauten stumm zum Fruchtsalat, an den sie unter ihrem Tuch nicht rankamen. Die Männer redeten mit ihren Handys.

«Wenn ich denke, dass die vor 100 Jahren noch Schafe gehütet haben!», flüsterte Erna zu Kurt.

Der: «Ja. Ja.»

Er hatte sein Gesicht ebenfalls abgedeckt. Die Börsenkurse waren interessanter als Ernas Betrachtungen.

«Überall hat es jetzt auch diese ‹Schlitzaugen›» – quasselte Erna weiter zur Zeitung.

Sie wusste, dass das Wort «Schlitzaugen» politisch unkorrekt war. Aber man war ja unter sich. Und immerhin lächelten die Chinesen, die auch Japaner hätten sein können («Ich kann die zwei Sorten nie auseinander halten!»). Sie trugen ein Dauer-Hoch auf ihren Lippen.

«Aber die Russen sind am schlimmsten, Kurt!»

«Ja, ja.»

Wenn die Russen übers grosse Frühstücksbuffet herfielen, war das stets wie eine Windhose. Sie häuften sich die Teller voll. Und boxten die andern Gäste weg vom Speck. Wollte ein Kellner mal diplomatisch für Ordnung sorgen, schoben diese Rubel-Rüpel lachend auffällig grosse Noten in die Taschen des Personals. Erna hatte früher dem Chef de Service stets eine Tafel Schokolade mitgebracht. Auf die Unterseite hatte sie einen 10-Euro-Schein geklebt.

DAS WAR STIL!

Aber die Russen wedelten mit 200er-Noten herum wie Lady Windermere mit dem Fächer…EINFACH EKELHAFT!

Der Dicke setzte sich nun an den Tisch, wo bereits drei auffällig geschminkte Frauen auf ihn warteten.

«Nutten!», zischte Erna zu Kurt.

«Ja. Ja.»

Die Weiber trugen diese Versace-Blusen mit den schreienden Mustern. Sie knöpften den Stoff auf, so dass das Pralle aufreizend über dem Joghurt wippte.

«Alles Silikon», giftelte Erna. «Auch die Lippen. Wie Veloschläuche!»

«Ja. Ja.»

«KANNST DU AUCH EINMAL ETWAS ANDERES ALS ‹jaja› SAGEN, KURT?!»

Jetzt legte der Ehemann leicht gequält die Zeitung ab: «Hast du etwas gesagt, Erna?!»

Der russische «Heiratsschwindler» ging am Tisch vorbei. Und nickte dem Schweizer Ehepaar burschikos zu: «Fast so schön wie in Zürich hier!»

Dies im Dialekt von Oerlikon.

«Ja. Ja.» – sagte Kurt.

Montag, 28. August 2017