Polizist

Iris hielt das Spielzeugauto in den Händen.

Es war Tims Auto gewesen.

Der Junge hatte es damals im Warenhaus entdeckt. Und Tim war gerade sechs Jahre alt: «Darf ich das Auto...?»

Iris reagierte ziemlich gereizt:

«Das ist ein Polizeiauto!»

Der Junge schaute seine Mutter mit strahlenden Augen an: «Ich will Polizist werden!»

OHGOTTOHGOTT!

Iris gehörte einer Bewegung an, die alles Reaktionäre verabscheute. In ihrer Stube hing Che Guevara als Plakat. Auf dem Nachttisch lag Lenin als Bibel. Das politische Ziel war klar: Kampf allen Regeln – grünes Licht für die Anarchie.

DA WAR KEIN PLATZ FÜR POLIZISTEN.

Okay. Die Uniformierten waren höchstens dafür da, um sie zu beschimpfen. Und Steine gegen «diese reaktionären Schweine» zu werfen.

WAREN DOCH ALLES VERKAPPTE NAZI, DAS!

Es war dann die Oma, die Tim das Polizeiauto schenkte. Sie hatte eh Mühe mit ihrer Tochter («Wofür habe ich dich studieren lassen, dass du in solchen Gangs herumhängst? Und Pamphlete verteilst...»).

Mit zehn Jahren kam Tim von der Schule heim. Ein Polizist hatte von seiner Arbeit erzählt – und ein bisschen Verkehrserziehung gemacht.

«Ich will Polizist werden!», sagte der Junge vor Mammas gebackenem Tofu.

«Nur über meine Leiche», knurrte die Mutter.

Er lernte dann Elektriker. Wohnte daheim. Und schloss die Lehre mit Supernoten ab.

Tim war jetzt 17.

Die Polizei nahm ihn gerne: Polizeischule... psychologische Ausbildung... Schiessübungen!

«Ich will keine Waffe», erklärte Tim dem leitenden Offizier. Zu Hause seufzte die Mutter: «Zumindest das!»

Sie lebten nebeneinander her. In seinem Zimmer hingen Plakate von Schweizer Schwingern. Tim begeisterte sich für den Schwingsport.

«ES IST DEIN LEBEN!», seufzte Iris. Und sah leicht angemieft auf die Männer mit den Sägemehlbröseln im Haar.

Immerhin – das Alter hatte sie etwas milder gestimmt. Aber Mao blieb. Lenin schaute noch immer vom Buchdeckel. Nur Che war mit den Jahren leicht angegilbt.

Mit 20 rückte Tim erstmals bei einer Demo aus. Er kam schweigend nach Hause – er hatte in Augen voller Hass geblickt.

Iris schüttelte den Kopf: «Ihr müsst euch mehr zurücknehmen...»

Jetzt erst explodierte Tim: «Wir nehmen uns zurück. Aber die kennen keine Grenzen!»

«Sie kämpfen für ihre Überzeugung», argumentierte die Mutter schwach.

«Sie wollen einfach Radau und Action-Party», schluchzte Tim.

«Kämpfen im Sägemehl ist auch keine saubere Überzeugung», schimpfte Iris.

Tim war 23, als er bei einer Krawall-Demo von einem Stein am Kopf getroffen wurde. Er starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus.

Die Presse brachte Schlagzeilen. Tenor: «Schlimm – aber man kann nicht alle Demonstranten in einen Topf werfen!»

Wie versteinert hatte Iris der Beisetzung ihres Sohnes beigewohnt. Der Kommandant sagte hilflose Worte: Tim sei ihnen allen ein Vorbild gewesen.

Zu Hause meinte Iris in der stillen Wohnung verrückt zu werden.

Sie schubste Tims kleines Polizeiauto auf der Tischplatte hin und her. Immer wieder.

Jetzt erst konnte sie weinen.

Am andern Tag löste sie den vergilbten Che von der Wand.

Montag, 21. August 2017