Er hiess Reinhard.
Sein Hals war faltig.
Seine Augen hatten diesen leicht giftigen Blick von diskutierenden Arena-Teilnehmern.
Und seine Beine waren krumm.
Reinhard war keine Schönheit.
Aber Frau Schneider war verknallt in ihn.
NA JA – WO DIE LIEBE HINFÄLLT…
Immer Anfang Juni sah man sie zusammen im Garten.
«Reinhard» hin. «Reinhard!» her. Frau Schneider pfiff ihn herum, wie einen Dackel. Aber Reinhard war kein Hund. Reinhard war eine Schildkröte. «Er ist bestimmt bald 100 Jahre alt», erklärte sie ihrer Nachbarin.
Frau Huber konnte mit Schildkröten nichts anfangen. Sie erinnerte sich noch an die Zeit, als diese in Suppenform «Lady Curzon» hiessen. Das tönte irgendwie vornehmer als «Reinhard». Aber natürlich war es heute verboten, Reinhard als Suppen zu verkochen.
Rinder durfte man. Und dies, obwohl Kälber nettere Augen hatten als Schildkröten. Fand jedenfalls Frau Huber.
Um es mit der Nachbarin nicht zu verderben, schenkte sie ihr mitunter Salatblätter für den Liebling. Das hätte sie nicht tun sollen. Frau Schneider war nämlich überzeugt, Frau Huber habe auch ein Faible für «Reinhard».
So tauchte sie eines Abends mit einer Schachtel bei der Nachbarin auf.
Frau Huber dachte zuerst, Frau Schneider habe einen Kuchen gebacken. Aber kein Gramm davon! In der Schachtel war «Reinhard» – mit seinen leicht giftigen Arena-Augen.
«Ich habe doch beim Lotto-Match diese Reise nach Ibiza gewonnen. Es bricht mir das Herz – aber ich darf Reinhard nicht mitnehmen. Sie lieben ihn doch auch, Frau Huber… er ist anspruchslos. Nur drei, vier Salatblättchen. Und er mag es, wenn man ihn am Hals kitzelt…»
Da hatte sich Frau Huber aber eine schöne Suppe eingebrockt – diesmal mit Schildkröte!
Frau Schneider hüstelte jetzt verlegen: «Also, ich habe ihn nach meinem Mann genannt. Der war auch so ein heisser Dackel… und deshalb habe ich das hier mitgebracht…»
Frau Huber schaute leicht erstaunt zu einem vergammelten Halbschuh…
Frau Schneider kicherte: «Mein Kleiner da ist ein Schuhfetischist – wie mein Reinhard selig…» «Ach?», räusperte sich Frau Huber.
«Ja. Mein Reinhard fuhr auf meine italienischen Stilettos ab. Aber das ist natürlich nichts für diesen Reinhard hier. Viel zu hart. Und der Absatz wäre verletzungsgefährlich. Er vergnügt sich mit meinem alten Turnlatschen…»
Frau Schneider verabschiedete sich mit einer Umarmung: «Sie sind ein guter Mensch. Das hat Reinhard sofort gespürt…»
Am sechsten Hütungstag machte die Schildkröte die Schraube. Dies über dem Turnschuh. Vermutlich hatte er sich zu stark ausgegeben.
Das Problem: Wo bekommt die Huber einen neuen Reinhard her?
Die Zoo-Handlung hatte eine schöne Auswahl. Alle diese Schildkröten sahen wie Reinhard aus. Frau Huber nahm die mit dem giftigsten Blick.
«Hoffentlich merkt sie nichts!», dachte die Huber.
Tat sie nicht!
Die Schneider war nach ihrer Rückkehr selig, den Hals von Reinhard (der nicht mehr Reinhard war) kitzeln zu können.
Dann warf sie ihm den Gammelschuh zum Pfingstrosenstock. Und Reinhard nichts wie drauf!
Schildkröten sind wie Männer – alle gleich!