Zucker ganz unten

Alain bückte sich. Der etwas übergewichtige Bahnschaffner muffelte in Gedanken: weshalb müssen diese Weichhirne den Zucker auch immer unten im Regal einräumen. Jeder Mist war oben: Ingwer-Saucen… goldener Vanille-Staub… Minzen-Gelee.

WER BRAUCHTE SCHON VERGOLDETE VANILLE?!

Und Minzen-Gelee war für die Garde der Königin. ABER DIE SCHWEIZER MUSSTEN SICH VOR IHREM EIGENEN ZUCKER BÜCKEN!

Er wollte eben ein Kilopaket herauszupfen. Da passierte es.

«Fffft». Und «dlafggg».

Alain spürte, wie es um seinen Bauch leichter wurde. Ein Druck liess nach. Der Hosenknopf war wegexplodiert.

Der lag nun am Boden – ein fingerbreit tiefer als der Zucker.

Alain hangelte sich am Gestell hoch: «VERDAMMI!»

Nun sind die Gestelle der Supercenters auch nicht mehr, was sie mal waren.

Jedenfalls hielt sich der pensionierte Bahnschaffner etwas zu stark an der verchromten Stange. Der Rest ist Gepolter. Getöse. Und ein Center-Angestellter, der seinen Kaugummi verschluckt und herbei eilt: «Was machen da?»

Der Gelee aus dem Land der Königin mischte sich mit Scherben. Darüber hatte es goldenen Vanillestaub geregnet.

«Sorry», knurrte Alain. «Ich wollte Zucker…»

«ZUCKER GANZ UNTEN!», sagte der junge Angestellte. Er schaute Alain so anklagend an, wie der früher die Bahnpassagiere taxierte, wenn sie ohne Tickets eingestiegen waren.

Schliesslich glitt der Blick des Super-Center-Manns an Alain entlang. Und blieb im Mittelfeld des Unglücksraben kleben: «Ihres Hosen rutscht!»

Tatsächlich hatte Alain so etwas gespürt.

Er griff elektrisiert zu seiner Jeans. Sie war bereits auf Kniehöhe runtergeorgelt. Und wieder: «VERDAMMI!»

Zwei ältere Kundinnen schauten geniert weg. Dann vorsichtig nochmals hin. Aber da war nichts Alarmierendes mehr zu sehen. Alain hatte hektisch alles nach oben gezogen. Und hielt die Hose mit beiden Händen.

Natürlich hätte er heute Morgen nicht diese Jeans wählen sollen. Sie war klar zwei Nummern zu klein.

Ironie des Schicksals: Im Leben war für Alain alles meistens eine Nummer zu gross gewesen: die schöne Blondine, die er heiraten wollte und dann die ewig stänkernde Martha nehmen musste, weil sie schwanger war…der Traum mit einem Camper durch Florida zu fahren…der Wunsch in der Gemeindepolitik eine Rolle zu spielen.

ALLES EINE NUMMER ZU GROSS!

Zum Ausgleich: die Jeans zwei Nummern zu klein. Und das kam alles vom Frustfrass. Und zu viel Zucker.

In solche Gedanken versunken liess er die Hose los. Sie rutschte gemütlich wieder nach unten.

Weshalb nur hatte er keinen Gürtel angeschnallt?

Auch da wusste Alain den Grund: das letzte Loch war längst weit weg vom Dorn.

Die Philosophie sagt, dass man den Gürtel in heiklen Situationen enger schnallen müsse!

ERST KÖNNEN VOR LACHEN!

Alain hielt jetzt mit der linken Hand den Jeansbund, mit der rechten zückte er einen Zwanziger-Schein aus dem Portemonnaie: «Nochmals sorry!»

«Nix nötig», grinste der Super-Angestellte. Steckte die Note ein. Und rief Alain nach:

«Nehmen Assugrin statt Zucker. So keines Bauch!»

Das Assugrin war gottlob ganz oben. Gleich neben den bunten Kokosstreuseln.

Zu Hause keifte Martha: «Du Depp – wo ist das Salz?!»

Auch Salz: ganz unten im Regal!

Montag, 26. Juni 2017