Von der Schnabeltasse mit Whisky

Illustration: Rebekka Heeb

Nun – es kann ja niemand etwas dafür, wenn er flach liegt. Schicksal. Bei Innocent war ein kaum zentimetergrosses Veloweg-Rändlein dieses Schicksal.

HOLPERTIOLTER! Schon kehrte es ihn. Und die Welt drehte sich rückwärts. ES LEBE DER VELOWEG!

Wir haben sofort auf die Insel telegrafiert: «Ankunft non possibile. Dottore caputto. Osso buco rotto. GIESST DIE BLUMEN!»

Wir haben seither nichts von den Insulanern gehört – nur so viel, dass in unserer Hütte eine Dauerfete gestartet wurde. Und Innocents Weinkeller grosse Freude bereitet.

Der Protagonist selber liegt in der Horizontalen. Man hat ihn nicht zusammengekleistert. Nicht operiert. Nicht einmal eingegipst. Immer wieder wurde grosszügig abgewunken: «In d e m Alter bringt das nichts mehr. Wir wollen froh sein, dass er noch selber auf die Toilette gehen kann.»

GEHEN? ICH SCHIEBE IHN HIN. Dann kommt der Kran in Einsatz und zurrt ihn über den Thron. Ich darf nicht genauer werden. Der Kranke hat es mir verboten. Aber so viel sei verraten: SCHÖN IST DAS BILD UND DIE FORTSETZUNG DER GESCHICHTE NICHT.

O. k. Die Leute strömen zum Bett wie die ­Hirten nach Bethlehem. Und alle schleimen sie sich durchs Programm: «Wie geht es dir? Du siehst aber super aus. Keine Bange, das wird schon wieder.»

KEINER ERKUNDIGT SICH NACH DEM PERSONAL. UND KEINER MÖCHTE WISSEN, OB ES DEM KRANKENPFLEGER-KOCH-ALLEINUNTERHALTER UND «PUTZ MIR MAL»-IHR-WISST-SCHON-WAS-MANN gutgeht. Nein. Die aufopfernde Umgebung ist pure Luft.

Der Kranke lässt sich von den Besuchern feiern wie Frau Merkel von der Handtaschen-Innung.

«Im Bett habe ich keine Schmerzen», erklärt der Mann nun, dessen Leben momentan nur aus Bruch besteht. Denn natürlich wollen wir, dass sein Bizeps intakt bleibt. Und er immer mal wieder mit den Stöcken einen Schritt wagt, um das schlaffe Muskelfleisch zu stärken.

ABER DANN FÄNGT DAS GEJAMMER DER WEICHEIER DYNASTIE AN: «Ich kann nicht … bist du verrückt … das schmerzt gigantisch … ach, dass ich das noch erleben muss …» Er kippt in die Flachstellung zurück. UND MIMT DIE NEUE ART VON FLACHMANN.

Alle fünf Minuten ruft Innocent nach der Schnabeltasse. In der Schnabeltasse hat es Eistee. SOLLTE ES ZUMINDEST HABEN! Aber der Tee wirft seltsame Duftwellen, die verdammt nach irischem Fasswhisky riechen.

«Du weisst, dass du keinen Alk mit den Schmerzmitteln mixen darfst», singt der Pfleger-Chor vereint. Doch Innocent pfeift drauf. Und zwitschert sich fröhlich den irischen Schnabeltasseninhalt rein.

«So ein Tröpflein stützt meine gute Moral», schaut er uns an, «wollt ihr lieber einen schief gelaunten Alten im Bett!? Ich meine: Um euch herum ist es ja auch nicht gerade ein Honigschlecken …»

Man muss den Patienten verzeihen. Das lernt jeder schon im kleinen Handbuch «der fröhliche Pfleger und das Biest».

Sätze, welche alle Menschen, die bereits nahe vor der Todesinsel herumrudern, immer wieder aufstellen, sind: «Wie geht es uns denn heute? Jetzt wollen wir aber tapfer sein und aufstehen.» Und: «Haben wir alles schön aufgegessen – das ist brav.»

Natürlich lassen wir solchen Schmus weg. Nein. Wir verwöhnen Innocent wie der ermordete Modemacher Mooshammer seine Daisy selig. Manchmal denken auch wir ans Strangulieren. Aber dann pfeifen wir einen halben Liter von den Melissengeist-Klosterfrauen rein. Und dämpfen unsere Mordgelüste mit Haschisch-Kuchen.

Innocent geht gut gelaunt über unseren Stress hinweg. Bei seinen Militärbrüdern, die ihn täglich mit einem Fässchen vom Stubenwein besuchen, gibt er dick an:

«Es ist wie im Luxus-Hotel. Nur noch schöner. Das Personal ist willig. Spricht Deutsch. Und ich bekomme am Schluss vom Monat keine Rechnung – hohoho!» Innocent macht auf Spassmühle der Saison. Dabei ist es unsere Psyche, die von ihm geschrotet wird.

«Wie lange dauert dieser Zustand an?», habe ich Remigius, den Arzt für jede Lebenslage, zu fragen gewagt. Er schaute mich verständnisvoll an. UND UMSCHIFFT DIE ANTWORT: «Sie machen das wunderbar. Sie sind der geborene Pfleger.»

MIR KOMMEN DIE TRÄNEN.

Der Kranke unterbricht unser Fachgespräch mit dem schrillen Schellen seiner Alarmglocke. Wir jagen zum Bett. Aber Innocent will nur wissen, was am Abend alles im Fernseher so läuft.

«Viel Kraft», flüstert mir Herr Remigius beim Abschied zu. «Und falls Sie etwas zur Nervenstärkung brauchen, schreibe ich Ihnen gerne ein Rezept.»

Ich gehe mit den beiden Stöcken zum Gefallenen: «Ein paar Schritte m u s s t du einfach versuchen. Das hat auch Doktor Remigius gesagt.»

«Ich kann nicht», flüstert Innocent matt, «die Beine tragen mich nicht.»

Dann zaubert er dieses Lächeln auf die Lippen, das für das Schmelzen der Alaska-Zone verantwortlich ist: «Könntest du das Schnabeltässchen noch einmal mit einem irischen Gruss auffüllen, du Guter?»

Im kleinen Handbuch für Krankenpflege steht bei solchen Momenten: «Lassen Sie den Kranken die Initiative ergreifen.» «Der Whisky steht in der Küche», belle ich deshalb.

Zwei Minuten später höre ich das «dlagg, dlagg, dlagg» der beiden Krücken.

NA ALSO – GEHT DOCH!

Dienstag, 13. Juni 2017