Von Pralinen gegen Stress und Patienten…

Illustration: Rebekka Heeb

Innocent liegt flach.

Er tut das im wahrsten Sinne des Wortes. Er lässt sich in der Horizontalen zelebrieren. Und wenn wir nicht gleich spuren, röchelt er leise, um uns zum Spurt um ihn an­­zuheizen. SO IST ES EINE WONNE, LÄDIERT ZU SEIN. FÜR I H N. ABER NICHT FÜR SEINE SICH AUF­OPFERNDE UMGEBUNG!

Nachdem wir unsere Basler Hütte rollstuhlgängig umgeteert und sämtliche Stolperteppiche auf dem Rollatorenweg beseitigt hatten, wurden wir angewiesen, den Gestürzten in ein anderes Zimmer zu betten – dorthin, wo er Aussicht auf Natur mit Vögeln habe.

ICH MEINE, ICH STRESSE DA IM FALSCHEN FILM. Wir sind doch hier kein Fünf-Sterne-Hotel, wo man freie Zimmerwahl hat. Es reicht schon der Menüzettel zum Frühstück, Mittagessen und Abendmahl. Akribisch genau wird aufgezeichnet, wonach gerade die Gelüste stehen: «Ein Eilein, wenns geht von der Wachtel, aber nur eine Minute blanchieren bitte. Dann ein Scheiblein vom Daniele­Schinken, aber nicht so dick wie letztes Mal; man muss die Schlagzeilen hindurch lesen können. Und dann bitte von diesem Frischkäse mit den Holderblüten – den bekommt man in Zürich in diesem hippen Gässchen hinter der Bahnhofstrasse… und… Ja, was soll dieser Flunsch?! Man wird sich doch wohl noch ein anständiges Essen zusammenpuzzeln dürfen?!»

ICH WERDE BALD EINMAL STRYCHNIN IN DEN MENÜPLAN EINPLANEN! UND ICH WERDE FREIGESPROCHEN WERDEN, WENN AUCH NUR EINE EHEMALIGE KRANKENSCHWESTER UNTER DEN RICHTERINNEN HOCKT.

Natürlich weiss ich schon lange nicht mehr, was richtig durchschlafen heisst. Ich meine: Ich döse nur noch. Schrecke beim kleinsten Geräusch aus dem Krankenzimmer auf. Und wenn dann doch einmal der Schlaf Barmherzigkeit zeigt und mich in seinen Schoss hinüber nimmt, dann werde ich durch lautes Gebrüll sofort wieder in die wache Wirklichkeit zurückgeworfen. Ich jage ans Krankenbett: «WAS IST PASSIERT? WAS HAST DU?» Innocent hockt aufrecht in den Federn und wühlt sich durch eine Pralinen­schachtel: «Nichts ist passiert. Ich habe nur herzhaft gegähnt…!» Dann vorwurfsvoll: «Es hat keine Mokka mit Nuss mehr…!»

Bei uns herrscht immer Zoff um Mokka-mit-­Nuss-Pralinen. Die gehen zuerst weg. Aber diese «Mokka mit Nuss» hier waren eh für mich bestimmt. Herr Franz, der gütige Mann aus Wien, hat sie mir zum Abschied in die Hände gedrückt. «Die sind von der Frau Anzinger bei der Oper. Die besten. Und Sie werden Sie gebrauchen, um Ihre Nerven zu stärken. Glauben Sie mir: Ich kenne mich mit Kranken aus!» SEINE FRAU LEIDET AN MIGRÄNEN! Muss ich noch weiter ausholen? Eben! Wir verstehen uns.

Natürlich ist Innocent wie der Geier aufs Aas auf die Pralinen los. Und jetzt schaut er mich vorwurfsvoll an, als hätte ich die «Mokka mit Nuss» reingehoovert…

Okay. Habe ich auch. Es ist süsser Stressfrass. Und Herr Franz hat ganz recht: Süsses beruhigt die Nerven. Ich werde bei Frau Anzinger in Wien Nachschub bestellen müssen.

Was mich wahnsinnig macht: Bei mir ist der Kranke immer auf dem Leidensweg wie Jesus, als er das Kreuz tragen musste. Damit will ich sagen: Er röchelt stets vor sich hin… verzieht das Gesicht alle drei Sekunden, als sei ein «Tatort»-Projektil zwischen seinen Rippen eingeklemmt… und: jeder dritte Satz ein Wunsch, jeder zweite ein ­Vorwurf. Doch alles mit stummen Ausrufe­zeichen! DAS MACHT FREUDE. DAS MACHT SPASS! Natürlich hat er Schmerzen. Aber er hat auch ­Pillen. Und die dröhnen ihn zu, sodass er mich mitunter mit glasigen Augen verwechselt: «Herr Pfarrer, ich möchte beichten!»

Aber kaum kommt Besuch, wird eine Fete ­aufgemischt. Die Kummermiene ist weggewischt. VERSCHWUNDEN, ERLOSCHEN. Sie ist einem weingeilen Blick gewichen: «Ja, habt ihr Lust auf ein Gläslein oder zwei…»

Er weiss, dass Alkohol in Kombination mit Schmerzmitteln verboten ist. Aber er pfeift drauf. Und läuft im Delirium dann prompt ohne Stöcke herum.

Oder wenn die Spitex-Frauen anradeln. Jawohl, sie radeln alle. Nur eine kommt mit dem Trottinett. Und ich muss hier gleich anmerken: Diese Frauen sind ein Glücksfall. Alle aufgestellt. Alle pudelmunter. Und alle so lieb, dass einem das Augenwasser kommt. Innocent kann es kaum erwarten, bis die Veloglocke klingelt.

Schon klingelt auch er am Rollator. Hockt sich dann auf den Stuhl. Und ruft zur Dienerschaft: «Die liebe Frau Gschwind ist da… wollen wir der lieben Frau Gschwind einen Espresso servieren?!» Eigentlich sollte ich ja das Kapitel mit der ver­sauten Matur in meinem Roman fertig schreiben. Aber «Kommts bald!» – gibt er jetzt im Bade­zimmer den Machosound durch.

Dann mit schelmischem Blick zur Spitex-­Frau: «Ich glaube, heute sollten wir wieder mal meinen Rücken eincremen…» RÜCKEN EINCREMEN! Und das von einem, der vor dem Bruch nur alle vierzehn Tage seinen Waschtag hatte. DIES MIT KERNSEIFE.

Beim Nachtessen («nur etwas Leichtes…­ ­vielleicht eine Forelle vom Blausee …? WAS HEISST, DU KANNST JETZT NICHT NACH KANDERSTEG?!») nimmt er plötzlich meine Hand. «Nun sind wir bald 50 Jahre zusammen. Aber so viel hatten wir noch nie voneinander wie jetzt… IST DOCH SCHÖN!»

Er weiss, wie man das Personal bei Laune hält…

Dienstag, 6. Juni 2017