Tinos Mutter weinte.
Als sie den Buben in die Küche kommen hörte, rieb sie sich die Augen. Schnäuzte. Und lächelte.
Tino sollte sie nicht heulen sehen.
Der Junge streichelte die Wange seiner Mutter.
Die Wange war nass.
«Papa kommt wieder», tröstete sie Tino leise. Und der wünschte sich, der Alte wäre für immer weg. Verschwunden: auf alle Zeiten in eine dieser tiefen, dunklen Gletscherspalten, mit denen er seine Helden-Erzählungen ausschmückte. Und aus denen er schon zweimal halb erfroren hochgezogen werden musste.
TINO ERHOFFTE SICH FÜR SEINEN VATER DEN VOLLEN ABSTURZ.
SEINE MUTTER WÜRDE NIE MEHR WEINEN.
DANN ERST WÜRDE RUHE SEIN!
EWIGE RUHE.
Sein Vater war ein einfaches Gemüt: Wein, Weib und Gesang. Dazu die Sucht zum Berg.
Seine Mutter wollte nicht, dass Tino von einer «Sucht» sprach: «Es ist seine starke Liebe zur Natur… zur Freiheit…»
Als der Junge einmal bohrte: «Weshalb soll die Freiheit auf den Gipfeln dieser Berge sein …? Freiheit fängt im Kopf an… beim Denken…», da gab ihm der Alte eine Kopfnuss. Und seufzte: «Das verstehst du nicht, Bubi – …es zieht mich einfach zum Berg. Ich brauche das. ES STIMMT FÜR MICH!»
UND FÜR DIE ANDERN?
DAS WAR NICHT VON BEDEUTUNG.
Er liess eine Frau zu Hause zurück, die der Kummer auffrass. Und einen Sohn, der möglichst bald seinen Tod wünschte...
Tino hasste seinen Vater für die Unruhe, die er in sein Leben brachte – nur weil es für ihn stimmte. Und er sich auf dem Berg «frei» fühlte.
Einmal hatte der Alte drei Tage im Eis-Biwak übernachten müssen. Das war heisser Stoff. Die Stimme vibrierte beim Erzählen: «Wir waren drei. Und wir wussten: das ist das Ende. Draussen wartet der Tod!»
Der Tod wartete nicht. Sondern schickte die Sonne. Der Vater setzte diese bei seinen dramatischen Schilderungen ein, wie die Gebrüder Grimm den tapferen Prinzen am Schluss: «…das war die Rettung! Alles wurde gut. Wir weinten vor Glück. UNVERGESSLICH!»
Tino hörte seinem Vater mit abwesendem Blick zu. Sein scharfes Messer schnitzte an einem Stück Holz. Das Schnitzen war Tinos Leidenschaft: «Ich habe eine Eule gemacht…», sagte er zum Alten.
Die Eule war nicht nach dessen Lebensphilosophie. Er hasste es, auf dem Gipfel unterbrochen zu werden: «…langsam traten wir den Rückweg an. Geschunden. Ausgepumpt. Aber glücklich!
WIR HATTEN DEN BERG BEZWUNGEN», so endete die Geschichte.
Als Tinos Mutter dann wieder mit verheulten Augen in der Küche sass, da schellte ein Polizist an der Haustüre: «Es tut mir sehr leid…»
Das Seil war gerissen. Der Vater stürzte tief. Ein Rettungstrupp hat ihn geborgen. Tot.
Die Mutter schrie auf. Der kleine Junge streichelte wieder ihre Wange.
Er wollte später das Schnitzmesser vergraben. Vielleicht waren Seilspuren dran.
Aber Tino war jetzt still glücklich. Und fühlte sich erstmals frei.
Es stimmte so für ihn.