Vom «Müssen» im Stau

Illustration: Rebekka Heeb

Endlich in Basel! Der Verkehr von Wien über München war Horror: Baustellen, Baustellen, Baustellen. Du stehst im Stau. Und das Schlimmste: deutsche Schlagermusik mit fröhlichen Moderatoren-Sprüchen – die Lustig-Laune umspinnt dich wie Zuckerwatte den Holzstängel.

EIN FEUERWERK AN VERBALEN GUMMI­BÄRCHEN WIRD AUF DICH LOSGELASSEN. Die Leute im Studio gehen mit ihren Lachern schwanger und spielen einander den Witz-Ball zu. Es ist eine ­Insiderparty. Und du bist erbarmungslos draussen – eingezwängt in eine Blechschlange, deren einzig aktiver Moment das Blinken von 100 000 Warnlampen ist.

Es ist kein Vorankommen.

Also rufe ich vorsichtshalber in Basel das Unfallbett an. Aber natürlich nimmt keiner ab. Und Horrorbilder steigen über allem Zuckersüssen der fröhlichen Radiowelle auf: Innocent am Boden…Nachttopf ausgeschüttet… Feuer im Nachbarhaus: WIE BEKOMME ICH DA EINEN MENSCHEN MIT GEBROCHENEM SCHAMBECKEN HEIL RAUS?

Es hupt. Genervt. Böse. Gallig.

Ich war zu fest in meinen Gedanken am Krankenbett. Die Blechschlange hat sich nach vorne bewegt. Zehn Zentimeter. Immerhin. Aber ich habe nicht an die vordere Stossstange aufgeschlossen.

JETZT HADERT DIE WELT MIT MIR.

Ganz weit vorne kommt ein Rasthof. Es sind noch 500 Meter. Das macht ungefähr anderthalb Stunden. Und ich gäbe ein Halleluja darum, wenn ich diese wunderbare Flasche bei mir hätte, die Innocent nun immer ins Bett nimmt. Und die alles erleichtert.

MICH ERLEICHTERT GAR NICHTS.

Ich spüre, dass der Drang immer stärker wird.

Mein psychologisch geschulter Vetter Tom mit dem eigenen Fitnessparcours und einem Diplom für schweres Hanteln hat es mir so erklärt: «Eigentlich musst du gar nicht. Es ist ein rein psychologisches Problem – du weisst, dass deine Erlösung nahe wäre. Dieses Wissen drückt auf die Blase. Deshalb kannst du es nicht mehr aushalten. Wenn sich aber keine Möglichkeit ankündigen würde, wäre auch der Harndrang weg!»

An all das denke ich jetzt. Und versuche mich selber zu therapieren: «Es ist nur psychologisch …du musst gar nicht … es ist nur dieser verdammte Rasthof dort mit den 20 Pissoirkacheln… aber du musst gar nicht… es ist nur…»

Ich halte es nicht mehr aus. Kurve auf die rechte Notspur. Und jage so an der Schlange vorbei.

DIE WELT JAULT AUF. TAUSEND HUPEN HUPEN.

JAWOHL. ICH WEISS, DASS MAN DAS AUF KEINEN FALL TUN DARF. ABER ES IST EIN NOTFALL. UND DER FAHRERSITZ EBEN ERST FRISCH GEPOLSTERT WORDEN!

Beim Rasthof erwische ich den allerletzten Parkplatz. Es steht da allerdings in Grossbuchstaben: RESERVIERT FÜR SCHWANGERE. Aber ich ­ b i n schwanger! Und 30 Sekunden vor dem ­Niederkommen…

DOCH ERST KÖNNEN VOR LACHEN!

VOR DER TOILETTE STEHEN SIE NÄMLICH SCHLANGE WIE DRAUSSEN AUF DER STRASSE. NUR BLINKT HIER KEINER.

Ich jage in Panik wieder aus den Gasthof. Finde einen Baum. Und… OHHH, MEHR ERLEICHTERT WAR ICH NUR NOCH DAMALS, ALS TRUMP NICHT GLEICH DIE ATOMBOMBE GEZÜNDET HAT…

Okay. Diese Art ist nicht die feine. Aber den Baum hats nicht gestört. Nur die total verklemmte Familie mit dem Kennzeichen HH – AUA 1455. Die Nordleuchten haben synchron den Kopf geschüttelt. Und «zzzzz» gezischt. Selbst der Dackel schickte mir einen Blick, in dem die Verachtung dieser ganzen Welt zu sehen war. Vermutlich habe ich seinen Baum benutzt.

Vor dem Schwangeren-Parkplatz mit meinem Auto blinkt es wieder. Dieses Mal in Blau.

Der Polizist tippt an seine weisse Mütze: «Sind Sie das?»

«Ja, mit Verlaub.»

Er mustert mich kritisch: «… und Sie wollen schwanger sein?»

Wollen schon. Können nicht.

Nun schaut mich der Verkehrskellenschwinger so grimmig an, wie ein «Tatort»-Kommissar den mutmasslichen Mörder: «Sie haben die Notspur benutzt! WESHALB?!»

Verlegenes Räuspern: «Ich musste halt …konnte einfach nicht mehr warten und…»

«ES GIBT KEIN MÜSSEN!», donnert der Polizist. «JEDER KANN ES HALTEN. DAS IST REIN PSYCHOLOGISCH, DIESER DRANG UND…»

Die deutsche Polizeischule besuchte denselben Psychologiekurs wie mein fitter Vetter. Man kann sich vor Staunen in die Hosen machen!

Ich bezahle eine kleine Strafgebühr in der Höhe eines Lottogewinns mit Zusatzzahl. Dann hangle ich mich geknickt und psychisch im Tief hinter das Steuer. Mein Handy düdelt Offenbachs Barcarole.

Und Innocent jammert aus dem Apparat: «Wann kommst du endlich? Ich liege da im Bett. Und kein Mensch kümmert sich um mich. Die Flasche muss geleert werden. Und mir ist nach einem Buttersemmelchen mit rohem Thunfisch…»

Gut. Er hats am Becken. Und nicht am Magen. Da kann er sich solche Gelüste leisten.

«Die Autobahnen sind alle verstopft…», belle ich ins Handy.

«Das bin ich auch…», bellt es zurück. «Diese Medikamente mauern mich zu wie Beton. Und wenn du zufällig an einer Apotheke vorbeikommst, dann besorge mir doch diese Tropfen, welche sie immer im Fernseher zeigen. Und die eine Lösung bringen…»

ES GIBT AUF DER AUTOBAHN KEINE APOTHEKEN!», brülle ich gereizt.

«ALSO MIT EINEM BISSCHEN GUTEN WILLEN…», kommt es eingeschnappt zurück.

Acht Stunden später bin ich in Basel. An Innocents Krankenbett stehen die Nachbarn, der Zunftvorstand und die allerengsten Freunde. Das sind etwa 150 Leute.

Es herrscht diese überhitzte Fröhlichkeit wie vor zwölf Stunden bei den Moderatoren der ­Frohe-Laune-Sendung.

Auch Innocent winkt mir zu: «Na, endlich! Mach nicht so ein Gesicht, du Spassbremse!»

Lautes Gelächter.

Und ich sehne mich zurück in die ellenlange Autoschlange, wo es einsam war. Und nur die Warnlampen still und friedlich vor sich hin blinkten…

Dienstag, 23. Mai 2017