Klar. Sie war seltsam.
«Etwas schräg» – so murmelte die Familie leicht gereizt über Fanny.
Und dann: «Sie kommt ganz auf Tante Lola raus…»
TANTE LOLA HATTE EINEN AN DER WAFFEL – das war allen klar. Auch der kleinen Fanny.
Aber sie liebte diese seltsame Tante, die auch mit 80 in wallenden Gewändern barfuss über die Wiesen hüpfte. Eine getupfte Kaffeetasse, gross wie ein Kinderkopf, der Sonne entgegenstreckte. Und Fanny zublinzelte: «Jetzt sammeln wir die goldenen Strahlen. Und trinken ein ganzes Tässchen davon…»
Lola hatte Fanny jeweils die leere Tasse hingestreckt. Und Fanny tat, als würde sie die Kraft der Sonne daraus trinken.
«Lass mir auch einen Schluck», lachte die Tante. Kippte den Rest der Sonnenstrahlen in einem Schluck runter. Und wischte sich den feinen Damenschnurrbart über den Lippen ab: «Ahhh – das tat gut!»
WIE GESAGT: GANZ KLAR EINEN AN DER WAFFEL!
Tante Lola war es auch, die Fanny mit dem Geheimnis der Mohnblumen vertraut machte: «Es sind Blutstropfen einer Jungfrau. Die arme Maid hätte einen reichen Bauern heiraten sollen. Die Familie hatte bereits alles arrangiert. Am Tag vor der Hochzeit fanden sie das Mädchen auf dem Bett. Es hatte sich mit einem Rasiermesser die Pulsadern aufgeschlitzt…»
Fanny erschauderte jedes Mal, wenn die Tante bei diesem Punkt der Geschichte angekommen war.
«Die Blutstropfen aber flossen hinaus auf die Wiese. Und bald schon blühte dort der wunderschönste Mohn…»
«Hör auf damit, Lola!», nervte sich die Familie. Und: «Du verängstigst das Kind!»
Das Kind aber sah in jeder Mohnblume das Blut. Und die Jungfrau, die sich gegen den Willen der Welt auflehnte.
Als Fanny erwachsen wurde und das Haus ihrer Eltern erbte, wünschte sie sich im Garten roten Mohn.
Sie ging zur Gärtnerei. Kaufte Samen. Streute die feinen Kügelchen aus.
NICHTS PASSIERTE.
MOHN HAT SEINEN EIGENEN KOPF.
Tante Lola, nun hoch in den Neunzigern, besuchte ihre Nichte Fanny. Und streichelte ihre Hand: «Du dummes Kind – das mit den Samen wird nichts. Mohn blüht nur, wo er will. Er ist wie das Glück – plötzlich ist es da. Und man muss es erkennen. Wenn es nicht kommt, kann man es nicht erzwingen… weder Glück noch Mohn. Gib mir den Arm!»
Sie gingen langsam den Weg durchs Dorf bis zu einem grossen Feld, wo Mohnblumen zwischen den Gräsern wie Schmetterlingsflügel im Wind zitterten: «Freu dich an dem, was du hast, Fanny… das Glück ist überall. Aber die meisten Menschen sehen es nicht…»
Als Tante Lola starb, hinterliess sie Fanny die grosse Tasse mit den Tupfen. Darin lag ein Zettel: «Lass die Menschen reden und spotten. Höre nicht auf sie – und lebe dein Leben!»
Fanny ging nun jeden Morgen auf die Wiese. Und trank vom Sonnengold.
Eines Morgens, als sie mit der getupften Tasse vor das Haus kam, leuchtete ihr ein rotes Meer entgegen. Die ganze Wiese war voll mit Mohn.
Sie setzte sich ins Gras. Und weinte.
«Fanny ist etwas seltsam», sagte die Nachbarin zu ihren Kindern.