Vom Abschied im Krankentransport und Regen

Illustration: Rebekka Heeb

Das Wiener AKW umfasst ein ganzes Quartier. Es heisst: ALLGEMEINES KRANKENHAUS WIEN. Und es liegt nur eine U-Bahn-Station von ­meiner Wohnung entfernt. Aber die U-Bahn-Station an der Volksoper wird umgebaut. Und somit ist sie temporär zugemauert.

ICH GEHE ALSO ZU FUSS INS SPITAL. DER FUSS IST PLATT. ABER NICHT GEBROCHEN, WIE DERJENIGE VON INNOCENT. MAN MUSS DANKBAR SEIN.

Das AKW ist ein mittelgrosses Dorf. Ich habe in meinem Leben noch nie so ein grosses Spital ­gesehen. Zwei Riesentürme sind miteinander ­verbunden. Alle über 20 Stockwerke hoch. Und dennoch liegen die Kranken hier auch im Gang. Zu wenig Betten. Zu viele Fälle. Und ein gehetztes Personal, das aber in all dem Stress immer ­«Servus-servus» trällert. Die Menschen hier sind so fröhlich wie ein Strauss-Walzer.

Jetzt sitzen zwei Weissbedresste auf Innocents Bett. Sie heissen Eliska. Und Nela. Und sie kichern mit dem «Herrn Doktor» wie die Adele in der ­«Fledermaus» mit ihrem Chef.

Innocent schaut leicht genervt auf. Wenn er mich sieht, stellt er die Haare. Das ist in einer ­langen Beziehung immer so – zuerst stellt sich alles andere. Dann nur noch die Haare. «Du kommst viel zu früh. Siehst du nicht, dass du störst. Wir trainieren.»

Ich spüre, wie mir die Tränen hochkullern. Es rührt mich, dieses Wrack in einem weissen Nachthemd zu sehen, das hinten offen ist. Dazu diese seltsamen Stützstrümpfe an den baumelnden Beinchen. Und der stramme Rollator vor dem gebrochenen Elend.

WER NOCH EINMAL SAGT, ALT WERDEN SEI SCHÖN, DEM POLIERE ICH EIGENHÄNDIG DIE FRESSE!

«Der Herr Doktor mog net laufen», jammert Nela theatralisch. Also dem grossen Moment der Lyrik und des Dramas begegnet man in Wien an jeder Ecke. Jede Sekunde ist ein Stück Oper, jeder Satz eine Ouvertüre. Das macht die Kultur hier.

«Lauf!», belle ich Innocent an. Der: «Ich bin kein Hund – und die Beine tragen mich noch nicht.» «Lauf – sonst gibt es keine weichen Eier.» Dreiminuteneier hat mir Herr Franz ins Glas gekippt. Und so liebevoll wie langsam in Zeitungspapier gewickelt: «So blaabens worm.» Aber natürlich sind sie nach dem Fussmarsch eiskalt. Doch immer noch pfluderig weich. Und das ist ja das Schöne an dieser Wiener Eier-im-Glas-­Sache.

Innocent stützt sich seufzend auf den ­Rollator. Dann verzieht er das Gesicht. Gibt Zischlaute durch die Zähne von sich. Und macht auf angeschossene «Tatort»-­Leiche: «Ich kann nicht… der Schmerz.» «Es hat auch ein Mini-­Fläschlein mit Gin neben den Eiern.» Schon läuft er.

Die beiden Physiotherapeutinnen mit den Wurzeln in Brno applaudieren hysterisch (auch wieder: grosses Theater): «Braver Herr Doktor … und so tapfer der Herr Gerichtsrat.» GERICHTSRAT? Es ist unglaublich, wie kreativ die österreichischen Mitmenschen im Erfinden von Titeln sind. Seit diese offiziell abgeschafft wurden, gibt es immer mehr davon.

Der Ärztechor, der dann zur Visite kommt, ist so bunt wie in unsern Krankenhäusern auch: ein bisschen China, ein bisschen Indien, viel Viriles aus den Islam-Gegenden und dann und wann ein paar blaue Augen vom Tirol. Sie könnten aber auch von der Krim sein.

«Wie geht es dem Patienten?!» Die Frage ist reine Rhetorik. Eine Farce. So wie das Cembalo­Geklimper zu den gesprochenen Rezitativen in Mozarts «Zauberflöte». Inncoent baut sich zur grossen Arie auf: «Also – gestern Abend…»

«WUNDERBAR. DANN WEITER SO. SERVUS!»

Dann bringt ein Mann Essen: Lungen­datscherl. Keiner kann uns genau sagen, was mit dieser Art von Lunge gemeint ist. Und wem man sie rausoperiert hat. Das Datscherl liegt einfach gräulich verhackt neben einem Klacks Spinat, der so grün ist wie die Uniform des Essensverteilers. Innocent lässt die Lunge liegen. Und ist dankbar für die (allerdings nun eiskalt erstarrten) Eier von Herrn Franz.

«Bring mich hier raus!», flüstert er mir nun zu. «Eliska und Nela sind zwar zwei heisse Käfer. Aber ich werde trübsinnig, wenn ich die vielen Kranken sehe. Gestern hat einer im Gang nach seinen ­Zähnen gesucht…»

SO GENAU WOLLEN WIR DAS GAR NICHT WISSEN.

Obwohl Innocent die Jammerarie am Telefon loslässt, sind wir für die Rega ein Bagatellfall. Wir werden an einen Kranken­wagen der Wiener Johanniter verwiesen. «Wir bringens den Herrn Baron schon guat haam», macht der Fahrer auf fröhlich.

Dann schnallen sie Innocent an den Schragen «Ist nur as Vorsichtsmossnaahm. Do weil der Franzl d Kurven ­alleweil so streng nimmt.» So ­fahren sie den gebrochenen Herrn Doktor in zehn ­Stunden von der Donau an den Rhein. Servus Wien – hallo Basel!

Ich breche in der ­Zwischenzeit die Zelte ab. Räume die Wiener ­Wohnung. Und mache mich ebenfalls auf die Autobahn. Die Navi-Tante bellt mir den Weg in die Ohren. Ich kutsche ein letztes Mal über den Ring. Stolz steht die Oper da. Rosig leuchtet am Ring der Schriftzug des Café AIDA. Und «sag beim Abschied leise Servus», nuschelt Hans Moser auf dieser CD, die ich im Museumsshop unter dem Titel «Wien – unvergesslich!» gekauft und nun in den Player eingeschoben habe.

Die Scheibenwischer springen an. Erste ­Tropfen fallen.

«Bitte wenden!», bellt die Frau aus dem ­Navigatoren-Land.

Zu spät. Es gibt kein Zurück.

Dienstag, 16. Mai 2017