Von einem Sturz und keiner Fledermaus

Illustration: Rebekka Heeb

Eigentlich bin ich zum Schreiben in Wien.

RIESENKISTE: ROSA SEEKUH.

Na ja – so ein Roman eben. Einem rankschlanken, wunderschönen Mann passieren alle diese Dinge, welche die Welt andern verboten hat.

WIE GESAGT: ES IST KEIN TATSACHENBERICHT.

ES IST M E I N ROMAN!

Jeden Morgen hocke ich mich also schon früh an die Tasten. Der Melittakaffee blubbert durch den Filter. Eigentlich sind mir die Kapseln von George lieber. Das wisst ihr ja schon. Aber in dieser Wohnung hat man Clooney ausgesperrt. Und die Tante Melitta am Leben erhalten. Immerhin: Der Kaffee duftet verführerisch aus der Glaskanne. Aber trinken kann man ihn nicht.

Es ist Zeit für das Telefon nach Basel. Und Innocent spult zur Begrüssung wie jeden Tag ­dieselbe Platte ab: «Wie weit bist du schon?»

Er denkt, ich müsse bereits am Grab des ­Helden – und somit am Schlusspunkt stehen. Denn Schreiben: «…das ist doch keine richtige Arbeit – die paar Buchstaben!»

Ich knalle den Hörer auf die Gabel (jawohl – es ist noch ein Telefon aus der Gründerzeit). Und schicke den Freund meines Helden im nächsten Satz mit Arsen ins Jenseits.

Wie gesagt: ein Roman! Denn Innocent lebt noch. Und will jetzt nach Wien kommen: «Aber wehe, wenn du mich als Erstes ins Sissi-Museum führst … ich will Palatschinken, Schnitzel und die Möpse der Liesel sehen!»

(Habe ich euch schon erzählt, dass sich die Salzburger Liesel zwei Möpse zugelegt hat? Sie tragen die Namen «Fuffi» und «Foffi». Muss ich ausführlicher werden? – Eben!)

Er kommt also. Und Wien inspiriert Innocent ungemein. Noch mehr als Liesels Möpse. Innocent ist konstant auf Walzer. Und auf «Backhendl». Nur bei der Stadtrundfahrt pennt er sofort ein, weil er die Sprecherin in seinem Kopfhörer nicht verstehen kann: «Das ist ein zu Frau gewordenes Maschinengewehr, so schnell, wie die redet.»

Dann schaltet er die Sprache auf «Russisch» um. Und schnarcht sich durch die Tour.

Das Unglück passiert am achten Wiener Tag. Wir stehen knapp vor dem Osterfest. Und überall eiert es in bunten Farben.

«An Gründonnerstag habe ich Karten für ‹die Fledermaus›», gebe ich Innocent das Hasen­programm durch. «Am Freitag für ‹Zauberflöte› und am Ostermontag dann ‹Lohengrin›.»

Innocent verdeht die Augen, wie diese Lotto- Kugeln im Mix-Apparat: «Können wir nicht zum Heurigen nach Grinzing … der ist frischer als diese Halleluja-Schwarten und…»

ER ÜBERSIEHT IN SEINEM REDEFLUSS ­DIESEN MINIMETERKLEINEN RAND, DER DIE VELOWEGE VOM FUSSGÄNGER ABTRENNT. SCHON LIEGT ER FLACH. UND SEITHER BIN ICH MEHR AM BODEN ALS ER…

Also eines muss man den Wienern lassen: hilfsbereit. Freundlich. Und wenn die Schweizer auch immer wieder höhnen, diese Lederärsche seien doch zu süss und ZU freundlich – DA WAR ICH ABER UM DIESE SÜSSE FREUNDLICHKEIT SEHR FROH!

Wir schaufelten achthändig den Gefallenen zusammen. Betteten ihn auf eine Bank. Und nachdem ich mich im Schrecken würgend dreimal an einem frisch blühenden Magnolienbaum ­übergeben hatte, klopfte ich Innocent den Kopf ab: «Wie viele Finger strecke ich auf?»

«HÖR AUF MIT DEM SCHEISS! HOL MIR EINEN SCHNAPS!»

Da wusste ich, dass zumindest hirntechnisch noch alles am Funktionieren war.

«Kannst du aufstehen?»

«NEIN!»

Na bitte! Schnaps. Aber schon nicht mehr auf den Beinen…

Ich stoppe einen Taxifahrer. Gemeinsam ­betten wir das gestürzte Elend in die Karre. Und ab zur Notfallstation in das, was sie hier AKW ­nennen, was aber nur «Allgemeines Krankenhaus Wien» bedeutet.

Wir packen Innocent auf einen fahrenden ­Sessel. Dann rollen wir alles zur Aufnahme. Und: «Da warten wir jetzt bis morgen früh… schau dich mal um…», meckert der Patient.

Tatsächlich sitzen und jammern da Dutzende von Menschen aller Nationen: Schwangere Frauen aus dem Orient sehen aus, als würden sie in drei Minuten den Nachwuchs rauspressen… alte Männer humpeln herum und jammern zu Allah. Ein kleines Mädchen im Ballett-Tutu hat die Füsse etwas allzu stark nach auswärts gedreht. Und ein engschlitziger Chinese beteuert zum ­hundertsten Mal seiner Begleiterin, die, weiss wie das Linnen Christi, vor sich hin kotzt: «Die Hühnerleber war einwandfrei, Marie-Lou!»

DAS WUNDERBARE: SIE SCHIEBEN BEREITS NACH 20 MINUTEN INNOCENT AUF EIN KRANKENBETT DURCH SÄMTLICHE STOCKWERKE. Ich brause wie ein Windrädchen hinterher. Nach drei Stunden ist alles erledigt – und ich nach dem Befund auch: «Der Herr Doktor hot en Bruch …und der Hoxen ist vermutlich aach gesplittet!»

Adieu, «Zauberflöte»!

Bye-bye, «Lohengrin»!

Ich heule ein bisschen. Und höre, wie einer der tschechischen Pfleger zum Kollegen grinst: «Das alte Tantenwrack ist völlig durch den Wind – hol ihm einen Sliwowitz!»

Innocent nimmt meine Hand: «Wenn du mich liebst, gibst du mir auch einen Schluck – ich werde dir dann auf den Geburtstag diese total überteuerte Lindt-und-Sprüngli-Aktie ­kaufen. Aber nur weil du so ein wunderbarer Mensch bist und …»

DIE OPIATE WIRKEN SCHON. ER IST WIRR …

Irgendwann sind wir in einem Zimmer im 19. Stock. Nicht einmal vom Riesenrad im Prater ist die Aussicht so genial. Wien liegt dir hier am Krankenbett zu Füssen – auch wenn diese geschwollen und dreimal gebrochen sind.

«Wir lossen den Herrn Doktor erstmools hier… saans unbesorgt!» – streckt mir eine der Krankenschwestern einen Kleenexfetzen zu.

Ich tropfe wieder wie die Dauerbrause. Und bemitleide mich selber: AUCH DIE «FLEDERMAUS» AM ARSCH!

Schliesslich tätschle ich schluchzend Innocents Finger: «Ich komme morgen früh – dann sehen wir weiter…»

«Wiiiien, Wiiiien, nur duuu allein…», trällert er vor sich hin.

«Das sind die starken Mittel», flüstert die Schwester.

«Das ist der Sliwowitz», denke ich.

Dann fahre ich in die Wohnung.

Sie ist grau, trist und leer.

Dienstag, 9. Mai 2017