Punk im Zug

Irene stieg in den Pendler nach Basel. Da sah sie ihn: EIN PUNK MIT GIFTGRÜNEM KAMM AUF DEM KAHLEN SCHÄDEL! EIN MENSCH GEWORDENER GOCKELHAHN!

Irene ist eine tolerante Person. Jeder soll nach seiner Façon glücklich werden. ABER DIESER PUNK SASS AUF IHREM STAMMSITZ.

UND DA HÖRTE DIE TOLERANZ AUF.

Natürlich stand nirgendwo geschrieben, dass Sitz 53, Fenster, Irenes Privatloge war. Aber immerhin pendelte sie jetzt seit 35 Jahren zwischen Zürich und Basel hin und her. Und noch nie hatte ihr jemand diesen Platz streitig gemacht.

Sie wollte eben ein deutliches Räuspern los­rattern, als sie die kantigen Schlagringe an der klobigen Hand sah. Die Ketten am Gürtel. Und die Lederjacke mit dem Totenkopf am Rücken : «I’M WAITING FOR YOU!»

Irene schluckte das Räuspern herunter. Und setzte sich drei Sitze hinter den grünen Besen – angestaut mit Wut, Frust und Unaus­gesprochenem.

Ein junger Mann belegte vis-à-vis den Platz. Typ: angehender Bankprokurist, ein Anzug so dunkel wie ein schwarzes Ausländerkonto. Und eine Krawatte, die wohl Hermes nachempfunden war.

Der Jungmann holte ein Folienpaket aus seiner Computertasche. Es war ein in Silber gewickelter Döner. Und schon schlug Irene ein Duft entgegen, als wäre sie in Anatolien auf dem Lämmermarkt.

«Das jetzt aber nicht auch noch…!» – Unter ihrem grauen Haar blinkten immer wieder die acht Buchstaben durchs Weichhirn: TOLERANZ! …TOLERANZ! …TOLERANZ! Doch ihr Magen tanzte Tango. «Ich übergebe mich gleich», geriet sie in Panik. Und: «Entschuldigung… dieser Döner duftet etwas arg streng … könnten Sie vielleicht im Zwischengang »

Der Mann schaute ruhig auf: «Das ist mein Platz … das ist mein bezahltes Ticket… das ist mein gekaufter Döner, der mir verdammt gut schmeckt… noch ein Problem?»

Mittlerweile hatte sich eine ebenfalls ältere Dame vom Hintersitz zum Döner-Mann umgedreht: «Die Frau hat recht. Der duftet nicht arg streng – der stinkt! UND SO ETWAS IST EINE ZUMUTUNG…»

Der Jungmann mit der falschen «Hermes» wird nun drei Stufen lauter: «Habt ihr alten ­Weiber nichts anderes zu tun, als hier herumzunörgeln. Verzieht euch an den Herd. Oder noch besser: HAUT AB IN DIE GRUFT.»

In diesem Moment sah Irene, wie der giftgrüne Besen mit der Totenkopfjacke auf sie zukam. Langsam. Drohend.

Sie schloss zitternd die Augen: «Meine schönen Zähne… frisch implantiert… und schweineteuer…»

Die Stimme des Besens war leise. Aber noch giftiger als sein Grün: «He, du Arschgesicht – hast du nicht geschnallt, was die Ladys hier gesagt haben: Du stinkst. WENN DU NICHT NULLKOMMAPLÖTZLICH DEINEN ABGANG STARTEST, DRÜCKE ICH DIR DIESE SCHEISSE PERSÖNLICH IN DIE FRESSE…»

Ein Stück vom verschwitzten Lamm kugelte auf die «Hermes», die falsche. Dann war der ­Stinker weg. Und die Luft rein.

Der grüne Besen tippte an die Stirn: «Bye bye Girls!»

Schon wankte der Totenkopf davon. Man hörte nur die Ketten rasseln. «Heee, super… merci!», rief die ältere Lady ihm nach. Die Frauen sahen, wie ein Daumen nach oben zeigte.

Irene lächelte der Frau zu: «Eigentlich sitzt er ja auf meinem Platz – 53, Fenster –, aber man muss tolerant sein!»

Montag, 8. Mai 2017