Von Eiern im Glas und dem Herrn Baron

Illustration: Rebekka Heeb

«Herr Andreas» bringt mir Eier. Sie sind exakt drei Minuten gekocht. Geschält. Und in ein mit Dampf erhitztes Coupe-­Glas gelegt worden.

Seit einer Woche schon serviert mir Herr Andreas jeden Morgen diese «Wiener Eier». Dazu ein Stück dunkles Brot. Grosszügig gebuttert. UND MIT EINER FINGERDICKEN LAGE GESCHNIPSELTEM SCHNITTLAUCH DRAUF!

Schnittlauchbrote habe ich seit der Kembserweg-Omi nie mehr gehabt. Und Glas-Eier überhaupt noch nie. Aber in diesem Wiener Kaffee an der Währingerstrasse scheint die Welt überhaupt stillzustehen. Sie wird nur zur Ansicht hereingetragen.

Gut zwei Dutzend Zeitungen aus Wien, Salzburg, Europa und der übrigen Welt werden jeden Morgen auf Holzhalter gespannt. Dann werden Morde, Kriege, Anschläge wie ein buntes Frühstücksbuffet auf einem grossen Tisch ausgebreitet.

UND AB GEHT DIE POST.

Herr Andreas fragt mich nach den Wünschen danach. Gemeint ist: Zwei Eier können dem gnädigen Herrn ja wohl nicht genügen. Und das Schnittlauchbrot ist eh nur ein Schmankerl. Dieser Gast da sieht nach Kräftigerem aus.

«Schinkenplatzerl?», schlägt er mir vor. «Oder a Palatschinken mit Marillenfüllung?» «Danke, Herr Andreas – vielleicht noch einen zweiten Einspänner!» Herr Andreas strahlt: «…mit Doppelportion?» Ich nicke ein bisschen angeschämt. Denn auf dem «Einspänner» schwimmt eh schon ein riesiger Schlagrahmberg wie das Unglückseis unter der «Titanic».

Aber wenn man den Einspänner doppelt berahmt, kann man den heissen Mokka damit mischen. Und dann kann jeder Cappuccino abstinken – JAWOHL: ABSTINKEN! Herr Andreas nickt nun erfreut: «Zum Kaffee müssens a Topfenstrudel kosten. Der iss noch warm. Kommt frisch vum Oofen. Dazu a Vanillesosse… kaaner machts a bessre Vanillesosse als unser Muggerl.»

Ich weiss nicht, wer «unser Muggerl» ist, und auch Herrn Andreas kenne ich nur mit Namen, weil er wie eine Louis-Vuitton-Tasche angeschrieben wurde. An sein schwarzes Kellnerjackett ist ein fingerdickes Schild gepinnt. «Herr Andreas» steht drauf. Am Abend ist er «Fräulein Hildegard». Natürlich nicht er. Sondern die Schicht, die ihn ablöst.

Fräulein Hildegard trägt ihren Namen auf einer weissen Baumwoll­bluse mit Rü­­schenkragen. Ein bisschen ähnelt sie diesen Pariser Schaufenster-­Schweins­köpfen – mit Paprikalippen sowie einem Büschel Petersilie hinter den Schweinsöhrchen.

Natürlich hat Fräulein Hildegard keine Schweinsöhrchen und auch keinen Paprikamund. Ihr Mund spricht vielmehr mit einem slawischen Akzent. Und sagt immer wieder «schäänes Häär…» zu mir. «Ja», nickte ich beim ersten Mal geschmeichelt, «es sind Naturwellen und Coffein-Shampoo von Alpecin.»

Erst später, als sie das «schäänes Häär» immer aufs Neue wiederholte, sodass ich dachte, sie wolle mich vielleicht bürsten, merkte ich, dass mit ihrem wunderschönen, dunklen Slawen-Singsang nicht «schönes Haar», sondern «schöner Herr» gemeint war. Das war natürlich genauso übertrieben wie die vierte Portion «Kardinalstorte», die ich noch immer das Wunderbarste finde, das der Klerus je zustande gebracht hat. Aber Fräulein Hildegard war sich mit ihrem «schäänes Häär» eines gepfefferten Trinkgelds sicher. MAN IST, WAS MAN GIBT.

Apropos – «Herr Andreas, könnte ich vielleicht etwas Pfeffer…» – «Aber sofort, Herr Doktor.» ACH GOTT IST DAS SCHÖN. Ich rufe jeden Morgen nach Pfeffer. UND NUR, UM DAS «ABER SOFORT, HERR DOKTOR» ZU HÖREN. In Wien bist du eben noch jemand. Auch wenn du gar niemand bist.

Gestern, als ich einem Musiker beim «weissen Rauchfangkehrer» seine Geigerhände mit fünf Euro salbte, liess ers laut klingen: «Danke, Herr Baron!» BARON! Ich schaute freudig geschockt um mich. Aber keine Sau interessierte den Baron. Weil nach zehn Euro bist du bereits Königinmutter.

Herr Andreas pfeffert mir nun die Eier. Er benutzt dazu eine Mühle, die mindestens so lang und dick ist wie der geschundene Arm unseres Kobra-Boxers. Herr Andreas dreht liebevoll daran, dreht, dreht – aber so wie die Zeit in diesem Kaffee stehen geblieben ist, so ist es auch der Pfeffer. ER WILL EINFACH NICHT RAUS. Und jetzt holt mir Herr Andreas leicht angenervt den Streuer: «So, der Herr Doktor, tuans bitte entschuldigen. Aber die depperte Mühle hots den Gaast aufgeben. S Glaserl da ist ganz frisch. Es wurde erst zu dan Weihnachtsfesttagen neu aufgfüllt!»

Schliesslich streut er mir etwas Salz auf die Eier. Und ich frage mich immer wieder, wie der «Muggerl» in der Küche das hinkriegt: Weshalb kann er so ein pflutterweiches Ei schälen, ohne dass es aufreisst? Ich habe da schon bei den Ostereiern aus dem Supercenter meine Heidenmühe. Wenn ich die Schale endlich weg habe, ist nur noch der Dotter da. UND HIER LIEGEN ZWEI UNVERLETZTE, GLÄNZENDE, WARME WEICH­EIER VOR MIR! Wenn das kein herrlicher Tagesstart ist!

«Noch a Floggerl Butter, der Herr Doktor?» Also – die reissen hier das geschälte Pflotschei mit einem Löffelchen auseinander. Und lassen etwas Butter darauf zergehen. Dann tauchen sie ein Stück vom Schnittlauchbrot ins Weiss-Gelblich-Dottrige. Und ziehen den Genuss rein. Was sagte schon mein alter Freund Simmel: «ES MUSS NICHT IMMER KAVIAR SEIN!»

Nach zwei Mal Topfenstrudel zum Frühstücksdessert habe ich dann das Café mit seinen Kristallleuchtern, den Plüschpolstern und Herrn Andreas verlassen.

Ich trat nach draussen in die wirkliche Welt der miesen Nachrichten. Ein Ruf von Herrn Andreas liess mich aufhorchen: «Herr Doktor, Herr Doktor, Se haam den Schürm vergessan.»

GOTT WIE DAS RUNTERGEHT – HERR DOKTOR! HERR DOKTOR! WIE FLIESSENDER HONIG.

Ich lasse den Schirm jeden Morgen liegen.

Dienstag, 11. April 2017