Von den süssen Brüstchen, die Minuzze heissen

Illustration: Rebekka Heeb

Innocent muffelt. Ich habe ihn um fünf Uhr morgen aus dem catanischen Hotelschragen prügeln müssen. Und jetzt ist er schräg drauf: «UND DAFÜR HABE ICH FERIEN!»

Umberto (vulgo: Umbi) erwartet uns schon an der Réception, die eigentlich nur ein Tisch und eine alte Glocke ist. HEUTE IST UMBIS GROSSER TAG. IN ­WENIGEN STUNDEN WIRD DIE HEILIGE AGATA IN DIE LUFT GEHEN. UND DURCH DAS VOLK VON CATANIA GETRAGEN.

Ein tragender Moment – für Innocent in ­diesem Moment aber nur «tragisch».

Innocent ist kein Morgenfrosch. Entsprechend reagiert er jetzt säuerlich: «Ich hatte noch nicht mal mein Säftlein.» Ohne Saft ist er saftlos. Ich versuche in einer der vielen Bars auf dem grossen Domplatz, wo ein schwarzer Elefant dem hellen Tag entgegenfiebert, Orangenjus zu organisieren. Doch alles schüttelt genervt den Kopf. Man hat Wichtigeres zu tun – etwa Marzipan-Oliven in Kristallzucker zu drehen. Und Torrone, dieses rosigsüsse Zwischending aus Nougat und dem, was wir früher «Ziehmi» nannten, als Berg ­aufzutürmen.

Ich zupfe eine Orange von einem der Strassenbäume. Die Früchte hängen hier ja einfach so frei herum. Da könnte sich die Migros mit ihren Budget-­Preisen aber mal ein Beispiel nehmen. D  A  S    SIND KRACHER!

Innocent suggelt genüsslich die Gratis-Frucht durch. Und Umbi zeigt auf etwas, das wie ein dicker Baumstamm aussieht. Es sind Kerzen. Menschenlang. Nein. Länger als der längste Mensch.

Sie sind armdick gebündelt. «… und die buckeln wir dann auf dem Rücken durch die Stras­sen», erklärt Umbi wichtig.

«WAS TUN WIR?», schreit Innocent entsetzt. Er ist 83. Und hat so schon viel auf dem Buckel. «Nein. Die Kerzen tragen die stärksten Jünglinge der Stadt», strahlt Umbi. «Alles zu Ehren unserer Agata.» Wir mussten so früh in der Kirche sein, weil Umbi uns zeigen wollte, wie sie die Kerzen weihen.

Der Bischof persönlich schwang den Rauch. Und der Chor der Bellini-Oper, der eigentlich immer nur Pause hat, weil das Theater 320 Nächte im Jahr geschlossen ist, der Chor also summt kirchliche Noten. Solches in dieser wunderbaren Kathedrale, wo Bellinis Gebeine hinter einer Marmortafel ruhen. Kerzen werden angezündet. Und dann kommen auch schon diese Candelore, die wir am Vorabend in den Quartieren bewundert haben. «Jede Innung besitzt so einen Lampenstock», erklärt Umbi, «und die Bäcker haben den grössten.»

Mein Gott – war das nicht auch mit einem Fasnachtssujet so? Irgendwas mit Gotthardröhre…»

Die Riesenlaternen (sie wiegen gut mal 2000 Pfund) werden ähnlich wie unsere Fasnachtslampen von «Trägern» aufgebuckelt und so durch die Stadt getragen.

Es sind zwölf Prachtexemplare, welche da Gold und Agatas Geschichte zur Schau stellen. Jeder der rund 120 Laternenträger ist ein Held. DENN ER BUCKELT SCHWER. Dazu kommen die flammenden Kerzenträger. Die meisten tragen weisse Gewänder, die ein bisschen an Ku-Klux-Klan erinnern. Aber wirklich nur ein bisschen. Dazu ein schwarzes Käppi. Und eine rote Schleife, auf der die Agata-Medaille blitzt.

Später, wenn die Aktiven durch die Menschenmenge, welche meine italienischen Schreiber­kollegen auf «1 MILLION GLÄUBIGE!» schätzen, wenn die ganze Prozession also die Via Etna rauf und runter wankt, dann fallen so manche auf die Knie. Und erflehen von der Heiligen ein Wunder.

Aber natürlich hat Agata Besseres zu tun, als die Catanesi vor ihren eigenen Landsleuten zu schützen. Da ist die Parallele zur Fasnacht bereits wieder gegeben, denn auch bei uns schreien sich die Menschen ihren politischen Jammer von den Seelen.

UND WAS PASSIERT? NICHTS. NADA. NIENTE.

«Du willst mir aber nicht sagen, dass ich deswegen so früh aus den Federn musste», zischt mir Innocent nun arg mies drauf in der Kirchenbank ins Ohr. «DER ARZT HAT DIR FRÜHTURNEN VERORDNET», zische ich zurück. Und «PSSSST!», zischt Umbi genervt. Er hat wieder Tränen in den Augen.

«Jetzt holen wir aber noch eine Mütze Schlaf nach», befiehlt Innocent, als Gebet und Gesang verstummt sind. «Wir treffen uns zum grossen Feuerwerk auf der Piazza», ruft Umbi zum Abschied. «SO ETWAS HABT IHR NOCH NIE ERLEBT!»

«Ach Gottchen», meckert Innocent, «da hat dieses Land keine Arbeitsstellen, keine Spitalbetten frei und keine Regierung – ABER NATÜRLICH MÜSSEN SIE ES TROTZDEM KRACHEN LASSEN. UND ALLES VERPULVERN.»

Eine der Candelore-­Bands spielt auf. Es sind zumeist neapolitanische Melodien. Die Lampenträger drehen die zentnerschwere Pracht zum kakophonischen Gebläse im Kreis – und diese Klänge sind ähnlich wie bei der Basler Gugge­muusig: schräg. Aber herzzerreissend.

Wir setzen uns vor eine Pasticceria, die auch einen starken Ristretto verspricht, an eines der kleinen Tischchen. Der Besitzer strahlt: «Ihr ­Svizzeri, ehhh…?!» Er habe mal in Interlaken im ­«Victoria» gearbeitet. «War gutes Zeit in Svizzera, doch Agata fehlt. Leute haben mächtiges Jungfrauberg dort. Aber alles GROSSES GLAUBEN an Touristi und Rubel rollen. Agata hier nix Geld. Agatha ist gutes Jungfrau mit Brust weg.»

«JA, MUSS ICH MIR DIESEN ANTI-HELVETISCHEN SCHEISS ANHÖREN?», wettert mein Freund.

Der Konditor balanciert auf einem Tellerchen zwei weisse Miniatur-Halbkugeln. Sie sind auf ihrem Top jeweils mit einer kandierten Kirsche garniert.

«Minuzze», lacht das Süssmännchen nun, «sind Minuzze, gibt nur jetzt, Spezialität zu Sant’Agata. Sind abgehacktes Brüste von heilig Jungfrau mit gut gefüllt.»

Man muss kein Macho sein, um sich dieses Brüstchen genüsslich reinzuziehen. Es schmeckt nach Marzipan, Bittermandeln, einer Prise Salz, Vanillecreme und viel, viel Zuckerguss. Von ­Weitem hört man wieder die Candelore-Bands. «Ist Geschenk von Haus», sagt der Bäcker. Und schleppt nochmals zwei Brüste an.

«Ein schönes Fest», seufzt Innocent nun ­versöhnt und wischt sich den Zuckerguss aus dem Schnauzer, «wenn auch arg süss.»

Klar. Er muss ja immer das letzte bittere Wort haben!

Dienstag, 21. März 2017