Poesiealbum

Anna blättert im Album. Jesuskäfer tanzen auf dem Buchdeckel durch ein Veilchenbeet. Und «Vergis meinicht» steht in Goldlettern auf dem Samtumschlag. Das S hat die Zeit geschluckt. ­Die Erinnerungen nicht.

Als Anna ihrer Grossnichte so ein Poesiealbum schenken wollte, winkte die kleine Lara genervt ab: «Aber wir schicken heute doch SMS, Tante Anna.» Sie war sieben. Und hatte das dritte Handy. Anna dachte: Arme Zeit – wie sollen die Kinder später in SMS blättern…?

«…und wenn wir mit einer Freundin Krach haben, dann tilten wir sie…»

TILTEN? «Ja, Tante – wir drücken auf den roten Knopf. UND WEG IST DAS BÖSE!» Aha.

Anna hatte im Album einfach Seiten heraus­gerissen. Etwa die von Klara:

In allen vier Ecken

soll Liebe drin stecken!

Das war der Spruch des Tages. Dazu ein Hochglanzzwerg, der ein Herz in seinen dicken Fingern trug. Klärchen hat Anna später prompt den ersten Freund weggeschnappt. Da war sie gerade mal acht. Hugo (neun) hatte mit Klärchen «Herr Doktor» gespielt. Das wollte er mit Anna (acht) auch immer. Aber Anna hatte ihn hingehalten: «Warten wir noch ein bisschen, bis ich Fieber habe, Hugo!» DANN KAM DIESE FIESE KUH UND LEGTE SICH FÜR HUGO FLACH!! Da war aber sofort aus mit der Liebe in allen vier Ecken. RAUS MIT DEM HOCHGLANZZWERG! Die ausgefranste Albumseite brachte ihr jedes Mal den Zorn und die Erinnerung zurück.

Anna blätterte weiter. Sie lächelte – DAS HIER WAR ERIKA! Erika war nicht gerade die Leuchte der Klasse gewesen. Schon eher im Gegenteil! ERIKA WAR STROHDUMM UND HATTE IHRE LEHRER ZUM WAHNSINN GETRIEBEN.

Manchmal erledigte Anna die Hausaufgaben für Erika. Und das brachte ihr im Poesiealbum einen bunten Strauss von Frühlingsblumen ein. Darüber lachte die Sonne:

MACH ES WIE DIE SONNENUHR,

ZÄHL DIE HEITREN STUNDEN NUR!

Erika wurde später Gemeinderätin bei der Intellektuellen-Partei. Und kam sogar in den ­Nationalrat. Anna hatte ihr eine Glückwunschkarte geschickt – witzig, wie sie meinte:

Mach es wie die Sonnenuhr,

regiere dort nicht allzu stur…

Sie hatte nie eine Antwort bekommen. Der Witz war nun mal nicht das Gewürz der Spät-Intellektuellen.

Bei den meisten Einträgen hatte Anna ein schwarzes Kreuzlein hingezeichnet. Erst vor einer Woche hatte sie Hildegard in den Todesanzeigen entdeckt. 89. Noch jung – so alt wie sie… Sie hatte im Poesiealbum geblättert. Und Hildegard gefunden:

Die liebe Hilde schreibet dir:

Ein Leben lang seist du bei ihr!

NA GUT – WAR JA NUN WOHL VORBEI. Auch Hilde bekam ein schwarzes Kreuz. Wenn sies richtig sah, waren nur noch Dora und Lore übrig. Aber Lore («Es kriegt nur Geld – wenns Gott gefällt!») war hinüber. Beim letzten Besuch hatte sie Anna für den Kaminfeger gehalten.

Blieb noch Dora – die mit dem rosigen Posaunenengel:

So lange Englein tönen,

gibt es nichts zu klönen…

Anna mochte Dora nicht. Sie war schon immer eine eingebildete, überhebliche Gans gewesen.

Also machte sie vorsorglich schon mal ein Kreuz auf diese Seite.

TILT – wie man heute sagen würde.

Montag, 13. März 2017